Freitag, Oktober 18

Die bilateralen Beziehungen der Schweiz mit China sind hervorragend – trotz Spionage, Misstrauen und Spannungen. Woran das liegt, erklärt die Autorin des ersten Geschichtsbuches zu dem Thema.

Frau Knüsel, China ist der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz, gleichzeitig will der Nationalrat chinesische Firmenübernahmen prüfen. Wann wurde das Verhältnis der beiden Länder schizophren?

Seit die Schweiz offizielle Beziehungen mit China unterhält, haben die Handelsbeziehungen ganz klar Priorität. Man formuliert China-Politik primär so, dass der Handel gut läuft. Die «Lex China» passt insofern hinein, als es sich nicht um ein Gesetz handelt, das speziell China erwähnt, sondern das Problem allgemein formuliert. Damit hat die Schweiz grosse Chancen, dass sie China nicht verärgert. Wenn die Schweiz spezielle Massnahmen gegen China ergreifen würde, wie das beispielsweise die EU macht, würde sich die chinesische Regierung gezwungen sehen, darauf zu reagieren.

China reagiert sehr empfindlich auf Kritik. Kürzlich protestierte die chinesische Botschaft in Bern sogar wegen einer Werbung, in der von «China-Ware» die Rede ist.

Besonders seit Xi Jinping an der Macht ist, wird ein nach aussen starkes China in offiziellen Parteislogans als Rechtfertigung für den Führungsanspruch der Kommunistischen Partei benutzt. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die Situation nach den Opiumkriegen im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Geschichte ist und China nun dank der Herrschaft der Kommunistischen Partei stark ist und international respektiert wird. Seit Xi Jinping an der Macht ist, muss jegliche Handlung, die als Demütigung oder als respektloses Verhalten gegenüber China verstanden wird, verhindert werden, sie könnte sonst Xis Stellung oder sogar dem Führungsanspruch der Partei schaden. Diplomaten sind angehalten, in solchen Fällen mit absoluter Kraft zurückzuschiessen. Die offizielle Schweiz berücksichtigt das, indem sie es vermeidet, China vor den Kopf zu stossen.

Für Sie ist der sogenannte Sonderweg der Schweiz mit China also erfolgreich?

Wenn man den Fokus auf die Wirtschaftsbeziehungen legt, ist das eine sehr erfolgreiche Politik. Es kommt ja immer auf den Blickwinkel an. Menschenrechtsorganisationen beurteilen den Sonderweg anders.

1950 hat die Schweiz die Volksrepublik China als eines der ersten westlichen Länder anerkannt. 2014 trat dann das erste Freihandelsabkommen in Kraft. Die Schweiz wird von China privilegiert behandelt. Weshalb?

Das liegt sicher auch daran, dass sich China wirtschaftlich und politisch auf die Schweiz verlassen kann. Um den grossen Partner nicht zu verärgern, hat die Schweiz weder nach dem Massaker von 1989 auf dem Tiananmen-Platz noch auf die 2019 weltweit bekanntgewordene Unterdrückung der uigurischen Minderheit Sanktionen verhängt. Das wird in China wohlwollend zur Kenntnis genommen. Die Schweiz stellt auch geopolitisch keine Gefahr für China dar. Die Schweizer Wirtschaft profitiert davon.

Wer profitiert mehr, die Schweiz oder China?

Die Schweiz will von China nicht dasselbe wie China von der Schweiz. Darum funktioniert das Verhältnis für beide Partner so gut. Die Schweiz will primär gute Handelsbeziehungen. China will Technologie und Know-how. Es interessiert sich für Forschungsprojekte, Investitionen, Joint Ventures. China verfolgt ja das Ziel, technologisch und forschungsmässig mit dem Westen gleichzuziehen. Das Ziel ist, bis 2049 Marktführer zu sein. Irgendwann wird die Schweiz also weniger wichtig sein.

Gerade kleinere Unternehmen fürchten einen Reputationsschaden, wenn sie mit China geschäften. Ist der grosse China-Run schon wieder vorbei?

Noch sind viele Schweizer Firmen abhängig von China, sie brauchen Produkte aus China, den Produktionsstandort. Und dann ist da noch immer die Verlockung des grossen chinesischen Marktes. Die Skepsis, die wir jetzt sehen, ist nicht neu. Wie Ralph Weber und ich in unserem Buch gezeigt haben, gibt es das Feindbild China, die Angst vor einem mächtigen China, vor chinesischen Spionen, schon in den fünfziger und sechziger Jahren. Gewisse Firmen schrieben dem Bund damals sogar, dass er doch bitte den Export ihrer Waren nach China verbieten solle, weil das dem Image der Firma in der Schweiz schade. Damals wie heute spielt das negative China-Bild in der Öffentlichkeit eine Rolle.

Exportiert wurde aber trotzdem.

Natürlich. Nach dem Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juni 1950 beschlossen die USA, verschiedene europäische Staaten und später die Uno ein Embargo gegen die Volksrepublik China. Die Schweiz weigerte sich mit dem Verweis auf die Neutralität. Später willigte sie ein, kein Kriegsmaterial mehr nach China zu exportieren und bei übrigen Waren ein Quotensystem einzuhalten. Dennoch konnte man aus der Schweiz mehr Waren nach China exportieren als aus anderen Ländern. Die chinesische Gesandtschaft in Bern machte sich das zunutze und baute ein internationales Netzwerk von Embargohändlern auf.

Exportiert wurde über das Ausland?

Ja. Die Gesandtschaft in Bern sorgte dafür, dass Embargoware aus ganz Europa nach China verschifft werden konnte. Das funktionierte über Umwege und Mittelsmänner – auch solche aus der Schweiz. Auch Produkte zur Herstellung von Atomwaffen wurden exportiert. Ohne die Umtriebe der chinesischen Botschaft in Bern wäre China nicht in der Lage gewesen, bereits 1964 Atomwaffen herzustellen.

In Ihrem Buch beschreiben Sie die Schweiz der fünfziger bis siebziger Jahre als globalen Hotspot für chinesische Spionage. Ist das heute noch so? Die Chinesen können sich ja das Know-how und die Technologie legal kaufen, wie das Beispiel von Syngenta zeigt.

Spionage ist immer noch effizienter. Es ist schneller und billiger, eine Person mit Know-how oder Zugang zu relevanten Daten ein paar Mal nach China einzuladen, bei Wine and Dine zu unterhalten und dann darauf zu hoffen, dass sie die benötigten Informationen preisgibt, als eine Firma zu übernehmen.

Und das wird immer noch so gemacht?

Das läuft schon sehr lange so. Manchmal werden Personen, die für China interessant sind, schon als Studierende rekrutiert. Andere werden gezielt ausgewählt, weil sie für eine bestimmte Firma arbeiten oder zu bestimmten Informationen Zugang haben. Man kennt diese Methoden aus den USA, weil dort Gerichtsurteile über solche Spionagefälle veröffentlicht werden. Solche Tätigkeiten finden aber auch in anderen Ländern statt. Alle grossen Nachrichtendienste sehen das als riesiges Problem.

Die Schweizer Bundespolizei wusste offenbar schon in den fünfziger Jahren von der regen Spionagetätigkeit, unternahm aber wenig. Warum hinkte sie den chinesischen Agenten immer einen Schritt hinterher?

Die chinesische Botschaft und das Konsulat in Genf waren damals eine Drehscheibe für Agenten und Spione. Die Schweizer Bundespolizei wusste das, hatte aber nicht die Mittel für eine adäquate Überwachung. Erst kümmerte sich ein einziger Inspektor um die Chinesen, der war aber gleichzeitig noch für die Überwachung von Rumänen zuständig. Dann kam ein zweiter Inspektor hinzu. Der verstand aber, wie bereits der erste, kein Chinesisch. Also musste ein Übersetzer hinzugezogen werden. Weil die Mittel knapp waren, kam der aber nur alle paar Wochen zum Einsatz.

Kennerin schweizerisch-chinesischer Beziehungen

PD

Ariane Knüsel, Historikerin

Ariane Knüsel ist Historikerin und Dozentin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung unter anderem mit den Beziehungen der Schweiz mit China während des Kalten Kriegs, der Darstellung Chinas in westlichen Medien sowie mit den Aktivitäten des chinesischen Geheimdiensts in Europa. Jüngst hat sie zusammen mit Ralph Weber, dem Professor für European and Global Studies am Europainstitut der Universität Basel, das Buch «Die Schweiz und China – von den Opiumkriegen bis zur Neuen Seidenstrasse» verfasst. Es ist das erste Gesamtwerk zur Geschichte der schweizerisch-chinesischen Beziehungen.

Zwei Inspektoren und ein Übersetzer für, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, 320 ausgebildete Agenten, die getarnt als Touristen, Journalisten und Geschäftsleute durch das Land reisen?

Wahnsinn, nicht wahr? Die USA setzen das FBI, Grossbritannien den MI 5 auf chinesische Agenten im eigenen Land an und die Schweiz zwei Bundespolizisten und einen Übersetzer. Dabei registrierte die Bundespolizei alle Personen, die mit den chinesischen Beamten in Bern oder Genf Kontakt hatten.

Und wie hat die Bundespolizei die Erkenntnisse verwertet?

Wenn der Übersetzer eingesetzt werden konnte, musste er erst einmal Ordnung in die phonetischen Abhörprotokolle bringen. Das war gar nicht so einfach. Pinyin, die von den Kommunisten eingeführte alphabetische Schreibweise für chinesische Namen, hatte sich damals noch nicht durchgesetzt. Sprach da jetzt ein Zhang oder ein Chen? Um wen handelt es sich eigentlich, und woher kommt der?

Das klingt ziemlich hilflos.

Die Bundespolizei hatte viel zu wenige Leute. Wenn sie aber einmal eine Person auf dem Radar hatte, lief die Maschine an. Die Polizei in der Wohnortgemeinde des Verdächtigen musste einen Bericht schreiben. Dann wurden Arbeitgeber und Vermieter kontaktiert, allenfalls die Post geöffnet, das Telefon abgehört und die Wohnung durchsucht. Wer also in diesem Netz hängen blieb, wurde gründlich auseinandergenommen. In 95 Prozent der Fälle bestätigte sich der Anfangsverdacht allerdings nicht oder konnte nicht bewiesen werden.

Chinesische Funktionäre beteuern bei Treffen mit Schweizerinnen und Schweizern gerne, wie wichtig die schweizerische Neutralität sei. Wer Ihr Buch liest, erhält den Eindruck, China verstehe darunter vor allem Nichteinmischung. Wie sehen Sie das?

Neutrale Länder wie die Schweiz sind leichter zu beeinflussen, aus chinesischer Perspektive. Die kapitalistische Schweiz galt der chinesischen Führung lange als abhängig von den USA – Neutralität hin oder her. Das änderte sich erst mit der 1954 einberufenen Genfer Konferenz zum Koreakrieg, bei der ein Waffenstillstand zwischen Nord- und Südkorea verhandelt wurde. Damals merkte China, dass es dank der Schweiz den Zugang zur Weltbühne erhält. In der Folge tauten die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf, und China konnte der Weltöffentlichkeit das Prinzip der friedlichen Koexistenz präsentieren. Zhou Enlai, die Nummer zwei hinter Mao Zedong, gratulierte dem Schweizer Aussenminister Petitpierre und pries die Konferenz als eine Veranstaltung zur Schaffung des Friedens in einem dem Frieden verpflichteten Land.

An der Bürgenstock-Konferenz vom Juni hat China wiederum nicht teilgenommen und wirft der Schweiz vor, es sei ein Widerspruch, als neutrales Land Russland mit Sanktionen zu belegen. Was erwartet China von der Schweiz?

Dass sie bei ihrer Politik des strategischen Mittelwegs zwischen pragmatischer Wirtschaftspolitik und leiser Kritik bleibt.

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