Montag, September 30

Zum ersten Mal wurden in der ganzen Schweiz Daten zu den Lebensbedingungen von Minderjährigen in der Nothilfe erhoben. Laut der Eidgenössischen Migrationskommission leiden nicht nur die Kinder, sondern in der Folge auch die Gesellschaft.

«Kinder sind immer und überall in erster Linie Kinder», sagt Bettina Looser. «Und die, die in unserem Land leben, sind unsere Kinder.» Looser ist die Geschäftsführerin der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM) und fordert nun zusammen mit ihrer Behörde einen besseren Schutz für Kinder in der Nothilfe des Schweizer Asylsystems. Diese müsse reformiert werden, teilte die EKM am Montag mit. Sie stützt sich dabei auf eine nun veröffentlichte Studie des Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind (MMI).

Das MMI hat zum ersten Mal in einer unabhängigen Studie in der ganzen Schweiz Daten zu den Lebensbedingungen von Minderjährigen in der Nothilfe erhoben. Die Universität Neuenburg ordnete die Resultate der Erhebung dann rechtlich ein. Mit dem Ergebnis: Die Lebensbedingungen der betroffenen Kinder sind nicht mit der Schweizerischen Bundesverfassung und der Uno-Kinderrechtskonvention vereinbar.

Rund 700 Kinder betroffen

Die Nothilfe soll in Not geratene Personen unterstützen, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Wegen ausländerrechtlicher Bestimmungen sind die betroffenen Personen meist von der Sozialhilfe ausgeschlossen. Deswegen soll die Nothilfe jene Mittel gewährleisten, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.

Die körperliche, geistige und soziale Entwicklung sowie die Gesundheit von ausreisepflichtigen Kindern und Jugendlichen in Nothilfe würden aber zu wenig geschützt, resümiert nun die EKM. Diese Minderjährigen sind laut der Untersuchung mindestens einem unzumutbaren Umstand ausgesetzt, viele sind sogar von Mehrfachrisiken betroffen. Sie wohnen demnach oft abgelegen in kollektiven Rückkehreinrichtungen und verbringen einen Alltag, der von Ausschaffungen belastet wird. Die Minderjährigen werden oft separiert beschult und können nur eingeschränkt an einem normalen Alltag teilhaben. Insgesamt leben laut EKM rund 700 Kinder und Jugendliche in der Schweiz in Nothilfestrukturen. Mehr als die Hälfte davon seit mehr als einem Jahr, viele von ihnen bereits seit mehr als vier Jahren.

In den Kollektivunterkünften seien die Kinder traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt wie Gewalt, Suiziden oder gewaltsamer Ausschaffung, schreibt die EKM. Isolation, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht würden sie verletzlich machen und dauerhaft schwächen. Um die Kinderrechte zu wahren, ist laut dem Gutachten der MMI ein juristischer Paradigmenwechsel notwendig: Die Behörden müssten das Wohl und die Interessen des Kindes bei allen Entscheidungen im Migrationsbereich ins Zentrum stellen.

«An psychischen Problemen, Perspektivlosigkeit und verhinderter Integration leiden nicht nur die Kinder, durch die Folgekosten trägt auch die Gesellschaft schwer daran», sagt Bettina Looser. Darum brauche es kindgerechte Integrationsmassnahmen: «Es gilt, im Interesse der Kinder und der Gesellschaft insgesamt, die Bildungs-, Arbeits-, Integrations- und Rückkehrfähigkeit der Heranwachsenden zu erhalten.»

Save the Children unterstützt die Forderungen

Die Studie schlägt weitere substanzielle Änderungen bei der Nothilfe vor. Unter anderem sollen Langzeitbezüge durch Kinder und Jugendliche von mehr als einem Jahr verhindert werden, und den Familien sollen auch familiengerechte Unterkünfte zugewiesen werden. Die Bedürftigen sollen besseren Zugang zu Volksschule und Berufsbildung bekommen sowie zu psychologischen Betreuungsangeboten und Unterstützungsprogrammen.

Save the Children, die weltweit führende Kinderrechtsorganisation, teilte mit, dass sie diese Empfehlungen unterstütze. Die Ergebnisse verdeutlichten, dass es sich nicht um Einzelfälle leidender Minderjähriger handle, sondern um ein systemisches Problem: «Das gegenwärtige Nothilfesystem erweist sich in seiner Gesamtheit als nicht kindgerecht, so dass betroffene Kinder und Jugendliche unzumutbaren Umständen ausgesetzt sind.» Nina Hössli, die Leiterin der Schweizer Programme von Save the Children, sagte: «Mittel- und langfristig müssen wir Wege finden, dass Kinder in der Schweiz so nicht mehr aufwachsen müssen.»

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