Montag, November 25

Amtsinhaber Kais Saied hat die Präsidentenwahl in Tunesien wieder haushoch gewonnen. Doch die Hoffnung vieler Menschen auf politische Entspannung wird enttäuscht: Vor allem Nichtregierungsorganisationen fühlen sich immer stärker von den Behörden drangsaliert.

«Sie haben leider zu Recht Angst», konstatiert Amine Ghali, Leiter des Kawakibi-Zentrums für Demokratische Transition in Tunis die Sorgen, die viele Nichtregierungsorganisationen in diesen Tagen umtreiben. «Gefängnisstrafen wegen der Unterstützung von Migranten, Dutzende Ermittlungen gegen NGO, die zu Menschenrechten und Demokratie arbeiten, und ein Diskurs gegen diese Vereine auf höchster Staatsebene», fasst Ghali das Klima in Tunesien zusammen. «Und das, obwohl wir ein Jahrzehnt lang eine gute Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und öffentlichem Sektor erlebt haben.»

Heute stehen viele NGO in Tunesien unter Druck. Kaum eine möchte öffentlich über die eigene Situation sprechen. Dabei hatten einige noch vor kurzem Hoffnung geschöpft, dass sich die Situation nach der Wiederwahl von Präsident Kais Saied beruhigen würde. Der Amtsinhaber, der regelmässig gegen ausländische Einflussnahme durch die Zivilgesellschaft wettert, hat die Abstimmung ohne ernsthafte Gegenkandidaten erwartungsgemäss mit mehr als 90 Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen. Doch für die Vereine im Visier der Regierung ist die Arbeit noch schwieriger geworden.

Siwar Gmati von I Watch kann ein Lied davon singen. 16 Mal hätten die Behörden den Verein im vergangenen Jahr vorgeladen, erzählt sie. «Das Strafgericht, die Einheit für Geldwäsche, diejenige für Kommunikationsvergehen – wir kennen sie inzwischen alle.» Die NGO I Watch kämpft vor allem gegen Korruption und ist der tunesische Partner von Transparency International. Sie gilt als einer der streitbarsten tunesischen Vereine – so laut und scharfzüngig, dass ihm manchmal auch von wohlmeinenden Stimmen vorgeworfen wird, mit seinen Aktionen übers Ziel hinauszuschiessen. Wer rein zu technischen Fragen arbeite, könne dies in Tunesien nach wie vor problemlos tun, anerkennt Gmati. «Doch sobald man einer öffentlichen Einrichtung die rote Karte zeigt, wird es schwierig.»

Wenig Beobachter – wenig Transparenz

Anfang September erklärte die Wahlbehörde ISIE, I Watch und einer weiteren Wahlbeobachter-Organisation seien keine Akkreditierungen ausgestellt worden, weil sie verdächtige Gelder aus dem Ausland erhalten hätten, um sich in tunesische Angelegenheiten einzumischen. Diese Entscheidung habe auch Einfluss auf die Transparenz der Wahlen gehabt, sagt Amine Ghali vom Kawakibi-Zentrum. «Früher hatten wir 20 000 Beobachter, dieses Mal waren es nur 1700 für rund 5000 Wahllokale.»

Die Vorwürfe gegen die Zivilgesellschaft sind nicht neu: Das Narrativ, dass vor allem die grossen, für Menschenrechte und Demokratie engagierten Vereine eine ausländische Agenda vertreten, sei inzwischen fest verankert in den Köpfen der Regierenden, so Gmati. «Es heisst, wir seien Spione, Verräter, keine Patrioten.» Gmati sieht darin eine Taktik, um von den Verfehlungen des Staates abzulenken. «Dieses Regime braucht immer einen Sündenbock. Erst waren es die Migranten aus dem Afrika südlich der Sahara, dann die vermeintlichen Umstürzler, und jetzt ist offensichtlich die Zivilgesellschaft an der Reihe.»

Auch Vereine, die sich für die Belange queerer Personen einsetzten, stünden derzeit im Fokus der Behörden, beklagt der Internationale Dachverband von Menschenrechtsorganisationen (FIDH). Sechs Mitglieder verschiedener Organisationen aus dem LGBTQ-Bereich seien seit Ende September vorgeladen, 27 queere Personen innerhalb einer Woche verhaftet worden.

Immer mehr Bürokratie

Vertreter weiterer Organisationen, die vor allem im Menschenrechtsbereich arbeiten, wurden in den vergangenen Tagen vorgeladen. Alarmierend sei das, sagt Siwan Gmati von I Watch, denn es treffe genau diejenigen, die auch international bekannt und in der Lage seien, zu bestimmten Themen über Tunesien hinaus die öffentliche Meinung zu mobilisieren. Nicht nur bei I Watch werde ihnen das Leben schwergemacht, indem man sie in Bürokratie ertränke. Die Dokumentationen, um eine Überweisung aus dem Ausland zu erhalten, seien enorm. «Manchmal dauert es drei Monate, bis wir eine Tranche Projektgeld erhalten.» So werde es immer schwieriger, die normalen Aktivitäten des Vereins auszuüben und den finanziellen Verpflichtungen nachzukommen.

Da die öffentliche finanzielle Unterstützung sehr gering sei und vor allem Vereinen zugutekomme, die Sport oder Sozialarbeit anböten, und es quasi kein tunesisches Mäzenatentum gebe, seien viele Nichtregierungsorganisationen auf die Finanzierung durch ausländische Geldgeber angewiesen «wie jede andere Institution des Landes auch», sagte Amine Ghali vom Kawakibi-Zentrum. «Das Land ist seit Jahren in der Krise. Das heisst: Selbst der Staat ist auf ausländische Geber angewiesen, auch in Fragen, die die nationale Souveränität betreffen.»

Das tunesische Vereinsrecht von 2011, das international als Vorzeigemodell gilt, verbietet die Finanzierung von Aktivitäten aus dem Ausland nicht, reguliert sie aber strikt, um zu verhindern, dass über Vereine, die nur auf dem Papier existieren, terroristische Aktivitäten finanziert werden. Die bestehenden Regularien seien völlig ausreichend, so Ghali.

Doch seit einigen Jahren gibt es immer wieder Vorstösse, ein neues Vereinsrecht zu verabschieden. Durchgestochene und offizielle Entwürfe haben eines gemeinsam: Sie zielen darauf ab, den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft, auf die Tunesien in der Aufbruchsstimmung nach der Revolution 2011 so stolz war, massiv einzuschränken. «Es ist kein Geheimnis, dass wir uns auf einen autoritären Kurs zubewegen. Und jedes autoritäre Regime hasst unabhängige Strukturen», so Amine Ghali. «Die Zivilgesellschaft stört, weil sie etwas zu sagen hat, aber auch als eine unabhängige Macht innerhalb dieser Nation – eine der letzten.»

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