Samstag, Oktober 5

Mit dem neuen Album «Wild God» wollte der australische Künstler seinen Rückweg aus familiären Tragödien in eine glücklichere Gegenwart markieren. Der Tonfall ist trotzdem düster geblieben. Das Repertoire aber hat therapeutischen Charakter.

Nein, Nick Cave sorgt nicht für reine Freude in seiner Musik. Das Schicksal hat ihm Worte der Verzweiflung ins Gedächtnis geschrieben und elegische Motive in die Seele. Und auch wenn die letzten Tränen biografischer Tragödien getrocknet sind und der Blick wieder frei ist auf eine Zukunft: Der Sänger, der zwei Söhne verloren hat, bleibt gezeichnet vom Leben.

Umso erstaunlicher, dass er die Ankündigung eines neuen Albums mit dem Versprechen von Hoffnung und Vergnügen geschmückt hat. Auf «Wild God» mag jetzt zu spüren sein, dass der Musiker sein Publikum mit hymnischen Klängen und üppiger Orchestrierung ergreifen und erheben möchte. Doch seine Oden an die Freude haben stets mit der Schwerkraft der Verzweiflung zu kämpfen.

In «Song of the Lake» etwa, dem ersten Titel, ist der Himmel bereits voller Geigen und Gebimmel; ein Frauenensemble gibt überdies den Engelschor. In den Überschwang der Klänge stürzt der Sänger aber mit einem kochend-kehligen Pathos, das eher an Manie denken lässt als an Euphorie. Und die Rede ist von einem älteren Mann, dem es an Lebenskraft mangelt. Zweifelnd zwischen Himmel und Hölle stürzt er sich nicht mehr ins Leben und gibt sich mit der blossen Ahnung von Glück und Liebe zufrieden.

Kampf mit dem Schicksal

So wie trauern eine Arbeit sein kann, so erweist sich irgendwann auch die Resilienz als Herausforderung. Niemand weiss das besser als Nick Cave. 1957 in Warracknabeal, Australien, geboren, liess er sich in der Jugend von irdischem Vergnügen durchschütteln, bis ihm sterbensübel wurde. Immerhin merkte der Süchtige noch früh genug, dass er vom Heroin loskommen musste. Im Kampf gegen die erste Sucht schaute er als zorniger Pinocchio über die eigene Nasenspitze hinaus, um hinter dem Horizont und in der Höhe des Himmels einen existenziellen Sinn zu suchen.

Seit den achtziger Jahren entwickelt sich der Sänger von Bands wie The Bad Seeds oder Grinderman vom zornigen Punk zu einem sensiblen Rock-Poeten, der seine vokale Inbrunst oft in balladeske, erzählerische Songs investierte. Es könne nicht sein, dass einem ein künstlerisches Talent nur zur allgemeinen Belustigung geschenkt sei, sagte Nick Cave einst in einem Interview. Mit der Musik wolle er «die Welt verbessern».

Zum Prediger und Seelsorger aber wurde er durch das Unglück von 2015. Sein 15-jähriger Sohn Arthur fiel damals im LSD-Rausch von einer Klippe und starb. Damit nicht genug: 2022 kam im Alter von 31 Jahren auch noch Jethro ums Leben. Der Sohn aus einer früheren Beziehung, der bei seiner Mutter aufgewachsen war, litt an Schizophrenie und starb mutmasslich an einer Überdosis.

Als Pop-Star konnte sich Nick Cave nicht in familiäre Intimität zurückziehen, sein Leid war öffentlich. Und wenn er es in seiner Musik verarbeitet hat, so war das stets auch an sein Publikum adressiert. «Skeleton Tree» (2016) und «Ghosteen» (2019) erwiesen sich als düstere, Requiem-artige Konzeptalben mit rhapsodischen und atmosphärischen Soundscapes, durch die der Sänger wie ein verlorener Einsiedler wandert.

Nick Cave hat 2022 in seinem Buch «Glaube, Hoffnung und Gemetzel» über seine Trauer gesprochen. Hier erklärte er seinen Glauben an die Heilkraft von Musik. Von allen Kunstrichtungen führe Musik am nächsten an das «Heilige» heran, sei er überzeugt. Die Musik schaffe «wahrhaftige Momente der Transparenz».

Heilen mit Musik

Kürzlich in «The Late Show» des amerikanischen TV-Moderators Stephen Colbert hat der Rocksänger, der in grauem Anzug und faltenfreiem Hemd fast wie ein mormonischer Missionar wirkte, seine Ansichten weiter ausgeführt: Musik sei eine der letzten Möglichkeiten, Transzendenz und Gemeinschaft zu erfahren. Da draussen in der Welt lebten überall prekäre Existenzen, die lernen müssten, mit Verlust und Trauer zu Leben. Musik könne sie zurückholen in die Schönheit des Lebens.

Nick Cave versteht sich immer weniger als Star, immer mehr als Priester, der seine Zuhörerinnen und Zuhörer an seinen Gefühlen teilhaben lässt. Deshalb ruft er auf der Bühne die Fans zu sich wie Jesus einst die Kinder. Und er will ihnen mit seiner Musik nicht einfach Spass bieten. Ein Album wie «Wild God» ist vielmehr wie eine rituelle Messe zu verstehen, die trotz dunkeln Botschaften zuletzt Trost und Hoffnung spenden soll.

Wie schon auf den letzten Alben nehmen sich die Klanggebilde, die Nick Cave mit dem kongenialen Komponisten und Multiinstrumentalisten Warren Ellis entwickelt hat, selten wie gradlinige Songs aus. Die zehn faszinierenden Stücke auf «Wild God» wirken eher wie Ambient-Gemäuer, wie hohe, hallende Tempel, durch die die bald eifrige, bald fiebrige Stimme des Predigers dringt. Bald versucht er, in eindringlichem Sprechgesang die Welt zu loben und zu feiern; dann erliegt er plötzlich wieder dem pathetischen Tonfall des Psalmodierens, der Zweifel und Trauer evoziert.

Der Titelsong zum Beispiel kommt zunächst wie ein Rocksong daher, über den sich neben dem Gesang auch eine Pianospur legt. Der wilde Gott gibt sich dann als verrückter Reiter zu erkennen, der sich im unbedingten Wunsch nach Erfüllung und Lebendigkeit durch Erinnerungen und verwaiste Seelenlandschaften kämpft. Die Musik wird immer dichter, chaotischer. Der Sänger empfindet sich selbst plötzlich als alten, kranken Gott – «dying and crying and singing». Zuletzt verliert sich seine Stimme in der Wucht eines Engelschors, als gebe es Erlösung einzig im Himmel.

Erlösung im Gospel

Manchmal spricht Nick Cave seine Traumata konkreter an. Die Diskrepanz zwischen seinen alten Sorgen und dem Wunsch nach neuem Glück zeigt sich etwa in «Joy». «I woke up this morning with the blues all around my head» singt Cave. Grund für den Blues ist ein nächtlicher Besucher in grossen Sneakers, der sich auf den Bettrand gesetzt habe. Man muss sofort an Caves Sohn denken, wenn der Geist spricht: «We’ve all had too much sorrow, now is the time for joy» – es sei jetzt Zeit für Freude, heisst es. Und sogleich singen wieder die Engel.

«Wild God» ist weniger ein optimistisches als ein therapeutisches Album. Nick Cave mutet dem Publikum den Schmerz seiner Schicksalsschläge zu. Aber die üppigen, feierlichen Klänge führen in eine musikalische Erlösung, die einen zwar nicht von allen Sorgen befreit, aber immerhin Mut und Trost spendet. Das erklärt auch das freundliche Finale. In «O Wow O Wow (How Wonderful She Is)» denkt Nick Cave zurück an die frühe, sorgenlose Liebe zu Anita Lane, der 2021 verstorbenen Pop-Sängerin. Dieser Erinnerung ist der fröhlichste Song des Albums zu verdanken, das zuletzt im euphorischen Gospel «As the Waters Cover the Sea» ausklingt.

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