Der Trainer Xabi Alonso hat ein Team der Superlative geschaffen. Unter ihm scheint die Mannschaft unschlagbar.
Zu sehen waren sie nach dem Schlusspfiff nicht mehr, die Spieler des neuen Champions. Nicht, dass sie sich dem Fussballvolk im Augenblick des Triumphes entzogen hätten, dazu hatten sie gar keine Gelegenheit, denn der Anhang kam zu ihnen. Noch bevor die neunzig Minuten in Leverkusen gegen Werder Bremen offiziell abgelaufen waren, leerten sich die Tribünen, und die Fans stürmten aufs Feld. Der Schiedsrichter hatte ein Einsehen und beendete die Partie.
Ordner machten Selfies mit denjenigen, die sie eigentlich abschirmen sollten. Mit grosser Mühe war der eine oder andere Spieler im Gewimmel von der Tribüne aus zu identifizieren – immer dann, wenn die Fans sie auf die Schultern hoben. Und sie liessen sich gerne hochleben nach dem 5:0 gegen Bremen, das dank drei Toren des phänomenalen Florian Wirtz nichts weiter als eine Gala war, die bekräftigte, warum dieses Team in so überlegener Manier die Bundesliga dominiert hat.
Nun ist er also vollendet, der erste Titelgewinn für Leverkusen. Es ist eine Meisterschaft der Superlative; noch immer ist die Mannschaft ungeschlagen. In allen Pflichtspiel-Wettbewerben – Europa League, Cup und Meisterschaft – sind es nun 43 Spiele ohne Niederlage. So gut war einst in Europa nur Juventus. Auch die Spieler beflügelt das Zahlenwerk: «Wir wissen, dass wir Geschichte schreiben können. Für den Verein, für die Fans, für uns selbst.» So hatte Granit Xhaka, der Stratege im Mittelfeld, die Leverkusener Mission umrissen. Sein Anteil im entscheidenden Spiel: ein magistraler Kick zum 2:0.
2000 und 2002 verspielte Leverkusen den Titel
Geschichte schreiben: Das ist eine im Sport etwas inflationär gebrauchte Wendung. Selten haben Sportereignisse zeitgeschichtliche Bedeutung. Doch angesichts des jahrzehntelangen Vorlaufs, der vielen Pleiten, des ständigen, spektakulären Scheiterns ist man geneigt, Xhaka den Kategorien-Fehlgriff nachzusehen.
Man braucht nur zurückzuschauen, um zu begreifen, was dieser Titel tatsächlich für diesen Klub, den ihn alimentierenden Bayer-Konzern und auch die Stadt bedeutet. Denn das Leverkusener Image war klar definiert: Hier wurde gepflegter Fussball gespielt. Spektakuläres Offensivspiel, zelebriert von hervorragenden Technikern. Jeder Coach, der hier anheuerte, schien sich dieser Maxime verpflichtet zu fühlen, mochte er Gerardo Seoane, Roger Schmidt oder Jupp Heynckes heissen. Der Leverkusener Stil hat eine lange Tradition: Zum Jahrtausendwechsel scheiterten zwei Teams so grandios.
Im Jahr 2000, unter dem Trainer Christoph Daum, verlor die Mannschaft am letzten Spieltag in Unterhaching. Michael Ballack, seinerzeit einer der besten Mittelfeldspieler Europas, stellte die Weichen zum Misserfolg mit einem Eigentor. Zwei Jahre später, nachdem der Trainer Daum über eine Kokainaffäre gestolpert war, die ihn das Amt des Bundestrainers gekostet hatte, wiederholte sich unter dem Nachfolger Klaus Toppmöller das Dilemma in potenzierter Form.
Der Leverkusener Fussball mit solchen Könnern wie Ballack, Bernd Schneider, Zé Roberto und Yildiray Bastürk wurde in ganz Europa bewundert. Sie wähnten sich bereit für den ganz grossen Sprung, sie standen kurz vorm Gewinn der Meisterschaft. Sie zogen in den Final der Champions League ein, ebenso in den DFB-Cup. Am Ende der Saison aber standen sie mit leeren Händen da. Geboren war der Begriff «Vizekusen», ein Synonym, das in Deutschland keiner Erklärung bedarf.
Und so schien es, als würde dieser Klub sein Potenzial niemals ausschöpfen, das sich bereits 1988 mit dem Sieg im Final des Uefa-Cups gegen Espanyol Barcelona angedeutet hatte. In gewisser Weise galt für ihn, wenngleich auf tieferem Niveau, was der «FAZ»-Literaturkritiker Karl Heinz Bohrer einmal über Borussia Mönchengladbach formulierte: Sein Text «Wembley. Nachruf auf die schönen Verlierer» galt der Mönchengladbacher Meisterelf um ihren Gestalter Günter Netzer. Er handelte vom Mythos der Gescheiterten.
Wenn Reiner Calmund, der legendarische Manager, auf diese aufwühlenden Jahre angesprochen wird, dann greift er zu einem plastischen Bild: «Mensch, gegen solche Fragen ist ja ein Zahnarztbesuch harmlos!» Das ist durchaus nachvollziehbar. Als Leverkusen 2002 den Titel verspielt hatte, brach Calmund regelrecht zusammen.
Die Hedonisten prägten das Bild des Klubs
Im Rückblick dürfte es wohl niemanden geben, der dieser Mannschaft in den frühen zweitausender Jahren den Titel nicht gegönnt hätte. Es waren schliesslich nicht nur die Fussballer, die faszinierten. Der Klub, der lange Zeit ein wenig klinisch gewirkt hatte, wurde gelenkt von einem flamboyanten Personal, das bisweilen hemmungslos hedonistisch auftrat.
Im Fussball der Gegenwart wären sie partout nicht mehr vorstellbar. Calmunds Körpervolumen brachte ihm den Titel des XXL-Managers ein; der hyperaktive Christoph Daum überführte sich damals selber des Kokainkonsums. Daums Nachfolger, der kettenrauchende Klaus Toppmöller, schnorrte zur Not auch einmal eine Zigarette beim Zeugwart, während er mit diesem fachsimpelte.
Insofern ist die Emanzipation vom Image des Serienzweiten, vom Etikett «Vizekusen», das beinahe schon eine eigene Marke geworden ist, gleich auf mehrfache Weise konsequent. Das gegenwärtige Personal tritt so seriös auf, dass es beinahe schon trist wirkt. Fernando Carro, ein gebürtiger Spanier, ist als Vorsitzender der Geschäftsführung des Klubs de facto einer der mächtigsten Männer des deutschen Fussballs. Erst recht, wenn man bedenkt, dass Granden wie Uli Hoeness von Bayern München und Hans Joachim Watzke vom BVB bald keine grosse Rolle mehr spielen werden. Ein Schlagzeilengarant ist er dennoch nicht. Der gelassene Simon Rolfes, ehemals defensiver Mittelfeldspieler im Klub, hat als Sportdirektor mit seiner seriösen Kaderplanung massgeblichen Anteil am Erfolg. Behaupten würde er das von sich selber niemals.
Xabi Alonso könnte auch CEO einer Bank sein
Und der Trainer Xabi Alonso, mit dem sich die Mentalität in Leverkusen so grundlegend gewandelt hat? Der Baske ist für nicht wenige Beobachter ein Mysterium. Nach aussen hin freundlich zu jedem, verbindlich, drahtig wie noch zu aktiven Zeiten, gut angezogen, im Auftreten stets taktsicher. Wer den idealen Erfolgsmenschen skizzieren müsste, der würde möglicherweise eine Figur wie Xabi Alonso zeichnen.
Wobei der Clou aber ein anderer ist: Würde man den Trainer einem Unbekannten vorstellen und behaupten, er sei der CEO einer Bank, eines Rüstungskonzerns oder eines liberal-konservativen Verlagshauses, dann würde dies auf den Unwissenden womöglich sehr glaubhaft wirken. Nahezu mit jeder Branche, die sich den Anstrich von Seriosität geben möchte, wäre Xabi Alonso mit seinem Auftreten kompatibel.
Ebendies unterscheidet ihn von anderen erfolgreichen Trainerkollegen wie Pep Guardiola oder Jürgen Klopp, die zwar durchaus facettenreiche Charaktere sein mögen, aber eben ausschliesslich im Fussball vorstellbar sind. Der Trainer Alonso leistet sich keine Fehler. Auch wenn er noch so impulsiv wirkt an der Seitenlinie, seine Mannschaft nach vorn peitscht: Über die Stränge hat er noch nie geschlagen, anders als die Kollegen Klopp und Guardiola, anders als Thomas Tuchel vom FC Bayern. Dieser wohltemperierte Mann wirkt in der Summe seiner als positiv wahrgenommenen Eigenschaften beinahe unheimlich.
Es zieht den Trainer weder nach München noch nach Liverpool
Und weil alles, was Xabi Alonso tut, so wirkt, als habe er zuvor eine Berechnung angestellt, um zu seiner Entscheidung zu gelangen, verwundert es auch gar nicht, dass er mit dieser phänomenalen Mannschaft ein weiteres Jahr arbeiten will. Er fühlt sich nicht berufen, Ordnung in den Münchner Narrenturm zu bringen oder sich als Nachfolger von Jürgen Klopp an dessen sensationellem Charisma in Liverpool messen zu lassen.
Gerade dort könnte dann jemand auf die Idee kommen, dass der Baske, der 2005 eine entscheidende Rolle beim Champions-League-Sieg Liverpools spielte, jemand ist, der zwar eine Mannschaft begeistern, aber nicht eine ganze Stadt in Taumel versetzen kann.
Genau das ist in Leverkusen aber gar nicht gefragt. Zu gediegen ging es hier über Jahrzehnte zu. Da passt einer, der niemals Anstoss erregt, vielleicht etwas besser hin als ein Einpeitscher. Und womöglich ist die Meisterschaft für diesen Trainer mit seiner Mannschaft nur der erste Schritt. Am Donnerstag geht es gegen West Ham um den Einzug in den Halbfinal der Europa League, im Final im DFB-Cup wartet Ende Mai Kaiserslautern. Dem Team winkt ein vollkommener Triumph. Aber nichts wiegt schwerer als dieser Meistertitel, der den Klub spät mit seinen Fehlschlägen aussöhnt.