Der Erste Weltkrieg bezeichnet das Ende der Vielvölkerimperien. Und steht am Anfang neuer Nationalstaaten.

Tara Zahra wurde 2010 mit einem Aufsatz über «nationale Gleichgültigkeit» berühmt. Schon 2008 hatte die Historikerin der University of Chicago in einem Buch dargelegt, wie sowohl deutsche als auch tschechische Aktivisten in der Zwischenkriegszeit versuchten, in ethnisch gemischten Gebieten des neuen tschechoslowakischen Staates eine exklusive nationalistische Logik durchzusetzen. Damit wurde die im Habsburgerreich weit verbreitete «nationale Gleichgültigkeit» durch die Vorstellung überlagert, jedes Volk müsse sein eigenes Territorium haben.

In ihrem neuen Buch «Gegen die Welt» weitet Zahra den Fokus aus. Sie untersucht in achtzehn Fallstudien aus der Globalgeschichte die Gegenbewegung der zunehmenden Abschottung von Nationalstaaten einerseits und von Projekten internationaler Zusammenarbeit andererseits. Ihre Protagonisten heissen selten Mussolini, Hitler, Gandhi oder Roosevelt, sondern vielmehr Rosika Schwimmer, Lillian Wald und Tomáš Bat’a.

Schwimmer war eine ungarische Feministin, die 1913 in Budapest einen Weltkongress für die Einführung des Frauenstimmrechts organisierte. Ihre kosmopolitische Grundeinstellung wurde allerdings durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschüttert. Rosika Schwimmer liess sich allerdings nicht beirren und verstärkte ihre pazifistischen Bemühungen.

Jeder will seinen Frieden

Die jüdische Ungarin suchte sich ausgerechnet den antisemitischen Autobauer Henry Ford als Verbündeten aus. Im Dezember 1915 legte ein Dampfer mit dem unwahrscheinlichen Duo an Bord in New Jersey ab und machte sich zu einer «Friedensfahrt» in das kriegsgeschüttelte Europa auf. Der Wahlspruch des Schiffes lautete: «Vor Weihnachten aus den Schützengräben und nie mehr dorthin zurück».

Nicht nur gemessen an diesen völlig überzogenen Erwartungen scheiterte das Unternehmen krachend. Schwimmers und Fords Initiative wurde in der amerikanischen Presse entweder als «teutonische Propaganda» oder als «Erschliessung neuer Märkte» gebrandmarkt. Der Dampfer wurde als «Narrenschiff» oder «schwimmendes Altersheim» verspottet.

Als er in Oslo anlegte, interessierte sich niemand mehr für die «Friedensfahrt». Ford schlich sich heimlich davon, Rosika Schwimmer musste die Aktivistengruppe auflösen. Der Friedensnobelpreisträger Henri La Fontaine hielt zu Recht fest: Die Menschen seien zwar des Kriegs überdrüssig, aber es stimme nicht, dass sie den Frieden wollten. Sie wollten jeweils ihren Frieden.

Die «Bolschewikenkrankheit»

Das Ende des Weltkriegs führte mit dem Untergang der Vielvölkerimperien zur Entstehung neuer Nationalstaaten in Osteuropa. Gleichzeitig mahnte aber die Grippepandemie von 1918 auch die erbarmungslose Präsenz globaler Probleme ein. Weltweit fielen zwischen 24 und 39 Millionen Menschen der Krankheit zum Opfer.

In Europa wurde die Pandemie in den jeweiligen nationalen Kontexten ganz unterschiedlich bezeichnet. So war die «Spanische Grippe» bald die «neapolitanische Soldatengrippe», bald die «Hunnengrippe», bald die «deutsche Pest», bald die «Bolschewikenkrankheit». Die New Yorker Gesundheitsbehörden gingen davon aus, dass die Grippe durch Immigranten in die USA eingeschleppt wurde. In der Lower East Side hatte die Krankenschwester Lillian Wald einen ambulanten Pflegedienst organisiert, der mittellosen Immigranten medizinische Hilfe bot.

Die Grippe forderte zahlreiche Opfer, auch unter dem Pflegepersonal – allein im Herbst 1918 starben in Lillian Walds Organisation 207 Krankenschwestern. Ihre Arbeit wurde ermöglicht durch den jüdischen Bankier Jakob Heinrich Schiff, der sich auch noch als amerikanischer Staatsbürger ganz als Deutscher fühlte. Die Überlagerung verschiedener Identitäten wurde durch den Weltkrieg auf eine harte Probe gestellt.

Schuhe für die ganze Welt

So unterstützte Schiff zunächst das wilhelminische Kaiserreich mit Anleihen, wechselte später auf die Seite der Alliierten, wollte aber Russland von dieser Unterstützung ausschliessen, weil er von den antisemitischen Pogromen im Zarenreich abgestossen war. Auch Lillian Wald war eine überzeugte Internationalistin. In ihren Memoiren schrieb sie rückblickend, sie habe in ihrer Pflegetätigkeit erkannt, dass «die Probleme einer Menschengruppe letztlich die Probleme aller» seien.

Wie kaum ein anderer hatte der Schuster Tomáš Bat’a die wirtschaftlichen Chancen der Internationalisierung in der Zwischenkriegszeit erkannt und ein globales Schuhimperium errichtet. Er war reich geworden als Stiefelfabrikant für die österreichisch-ungarische Armee im Weltkrieg, wurde aber als tschechischer Fabrikant in den zwanziger Jahren auf einen viel kleineren Markt zurückgeworfen.

Er expandierte schnell und baute Fabriken in Ägypten, Indien, Indonesien, Jugoslawien, Deutschland, Polen, Frankreich, Grossbritannien, Kanada, im Irak und in Libanon, in der Schweiz und in den USA. Nationalstaatliche Grenzen spielten für Bat’a keine Rolle mehr. Seine Geschäftsreisen absolvierte er im Flugzeug. Er verkündete, die Luft sei «das neue Meer».

Globale Kapitalisten

Er hielt allerdings nichts von der Gleichheit aller Menschen, sondern glaubte, der «nordische Mensch» könne mit dem «von Sonne überfluteten Menschen» in ein für beide Seiten vorteilhaftes Tauschgeschäft treten. Umso intensiver arbeitete er an einer Umerziehung seiner Arbeiterinnen und Arbeiter, die zu globalen Kapitalisten mit einer uneingeschränkten Loyalität zum eigenen Unternehmen werden sollten.

Am Stammsitz in Zlín entstand eine riesige Fabrikstadt mit firmeneigenen Wohnungen. Bat’a leistete sich für seine Angestellten ein Kino, eine Bibliothek, ein Musiktheater und einen Kindergarten. Natürlich gab es auch eine eigene Zeitung. Allerdings wurde dem umtriebigen Tomáš Bat’a seine Flugbegeisterung zum Verhängnis. Er insistierte 1934 bei dichtem Nebel gegen den Rat seines Piloten auf einem Flug in die Schweiz und stürzte tödlich ab.

Es gelingt Tara Zahra, ein faszinierendes Gemälde der widersprüchlichen Tendenzen in der Zwischenkriegszeit zu zeichnen. Dabei kann sie zeigen, dass die heutige Dynamik von Nationalstaatlichkeit und Globalismus bereits vor hundert Jahren entstand.

Tara Zahra: Gegen die Welt. Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit. Suhrkamp, Berlin 2024. 446 S., Fr. 51.90.

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