Junge Erwachsene lösen sich immer später von ihren Eltern. Auch den Eltern fällt es schwer, ihre Kinder ziehen zu lassen. Die Folgen: Die Kontrolle nimmt überhand, und das Selbstwertgefühl des Nachwuchses leidet.
Newsha Djavadipour-Sigari hatte ihren beiden Töchtern beim Umzug helfen wollen. Beide fingen gleichzeitig in verschiedenen Städten an zu studieren. Doch dann bekam Newsha Covid und musste eine Woche im Schlafzimmer in Quarantäne bleiben. Als die Quarantäne vorbei war, waren die Töchter fort.
«Ich hatte den Schock meines Lebens», sagt Newsha. In jenem Moment war das Leben, wie sie es zwanzig Jahre lang gekannt hatte, plötzlich vorbei. Heute kann sie über ihre Reaktion schmunzeln. Doch über sechs Monate trauerte sie um die vergangene Familienzeit mit den Kindern. Diese Trauer wird umgangssprachlich gerne als «Empty-Nest-Syndrom» bezeichnet.
Zu sehen, wie die eigenen Kinder flügge werden, war wohl immer eine einschneidende Erfahrung im Leben von Eltern. Doch gerade heutige Eltern sind dabei manchmal besonders herausgefordert.
Kinder ziehen später von zu Hause aus
Seit den 1990er Jahren hat sich das Lebensalter, in dem junge Erwachsene das Elternhaus verlassen und selbst Familien gründen, in westlichen Gesellschaften weit nach hinten verschoben: Ausbildungs- und Studienzeiten und hohe Mieten in Grossstädten verlängern häufig das Leben unter einem Dach mit der Kernfamilie.
In der Schweiz wohnen 52 Prozent der 24-Jährigen noch zu Hause bei ihren Eltern. Bei den 25-Jährigen sind es gemäss dem Bundesamt für Statistik noch 40 Prozent. Auch in Deutschland leben knapp 30 Prozent der 25-Jährigen noch bei den Eltern. Der Abschluss der Berufsausbildung, der erste Job, selbst Familiengründungen markieren nicht mehr notwendigerweise den Beginn eines eigenverantwortlichen, finanziell unabhängigen Lebens. Kinder lösen sich oft später von ihren Eltern als vor einigen Jahrzehnten.
Erleichtert wird das dadurch, dass Konflikte zwischen den Generationen seltener geworden sind. «Wir sehen seit Jahren, dass die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern meist gut sind», sagt Beate Schwarz, Professorin für Angewandte Psychologie mit Schwerpunkt Entwicklungs- und Familienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Für Schwarz ist einer der möglichen Gründe dafür der Erziehungsstil. Eltern erziehen ihre Kinder heute fürsorglich, strafen weniger, erklären mehr. Dadurch seien sich erwachsene Kinder und ihre Eltern so nah wie nie zuvor.
Doch offenbar hat diese Nähe auch eine Kehrseite. Sie kann die Ablösung vor allem für Eltern schmerzhaft machen. So erlebte es auch Newsha, als ihre Töchter das Elternhaus verliessen. Es war ein Einschnitt. Doch psychologisch gesehen, ist ein solcher Einschnitt die beste Voraussetzung, damit Eltern und Kinder ein reifes Verhältnis auf Augenhöhe entwickeln.
Der Grundstein für eine gelingende Ablösung liegt in der Kindheit
Auch wenn dieser Schritt erst viel später vollzogen wird als in Newshas Familie, kann er gelingen. Allerdings lassen sich Anzeichen dafür beobachten, dass Ablösungsprozesse von Kindern und Eltern komplizierter werden. Manchen Eltern fällt es zunehmend schwer, ihre Kinder loszulassen.
Die Psychotherapeutin und Ärztin für Allgemeinmedizin in Innsbruck, Angela Lee-Schultze, berichtet von Extremfällen aus ihrer Praxis. Etwa von einer Mutter, deren jugendlicher Sohn mit Freunden beim Skifahren war. Auf jeder Liftfahrt sollte er eine Nachricht per Smartphone schicken, dass alles in Ordnung sei. Abends dann fragte die Mutter nach, was ihr Sohn an diesem Tag erlebt habe, obwohl sie bei sämtlichen Aktivitäten so gut wie live dabei gewesen war.
Die Basis für eine gelungene Ablösung werde schon in der Kindheit gelegt, sagt Lee-Schultze. Eine sichere Bindung zu den Eltern ist der Grundstein. Zugleich sollte der Nachwuchs schrittweise eigenständiger werden. Geht beides gut, können sich Kinder und Erwachsene mit hoher Wahrscheinlichkeit später im Leben gut voneinander lösen.
Nicht wenige Eltern schränken diese Entwicklung hin zur Selbstverantwortung ein. Das schreiben amerikanische Entwicklungspsychologen 2023 im «Journal of Pediatrics». Die Autoren zeigen, wie sich der Umgang mit Kindern in den westlichen Industrieländern in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat.
«Kinder erfahren seltener, dass sie etwas alleine schaffen»
Noch vor ein, zwei Generationen spielten Kinder ohne Aufsicht auf der Strasse, und Grundschulkinder fuhren unbegleitet im Zug zu Verwandten. Diese Freiheit, eigenverantwortlich zu handeln, auch wenn ein gewisses Risiko damit einhergehe, sei im Laufe der Jahre viel weniger geworden, schreiben die Forscher.
Der Radius, in dem sich Kinder unbeobachtet bewegen können, sei geschrumpft. Heute würden Kinder viel stärker behütet. Mit anderen Worten: Die Kontrolle nimmt überhand.
Den Hang zu mehr Kontrolle stellt auch die Psychotherapeutin Lee-Schultze fest. Und er setzt auch die Eltern selbst unter Druck. Etwa berichtet ihr ein Vater, dass er ein schlechtes Gewissen habe, wenn er seinen kleinen Sohn beim Spielen beaufsichtige, weil er währenddessen gedanklich abschweife und Angst habe, auf diese Weise nicht sorgfältig genug auf das Kind aufzupassen.
«Eltern kontrollieren ihre Kinder viel stärker als früher. Kinder erfahren seltener, dass sie allein etwas schaffen, und Eltern vertrauen weniger darauf, dass ihre Kinder gut zurechtkommen.» Als Beispiel für «ganz viel Umklammerung» bei Kindern und Eltern nennt sie das gemeinsame Hausaufgabenmachen bis zum Abitur.
Ziel westlicher Erziehung ist die Selbständigkeit
Kontrolle hat viel mit Angst zu tun: «Diese Angst der Eltern verunsichert wiederum die Kinder – bis hin zur Angst davor, überhaupt selbständig zu werden, selbständig zu leben», sagt die Therapeutin.
Mütter und Väter könnten regelrecht in Panik verfallen, wenn sich ein Kind nicht exakt so verhält wie vereinbart. Diese Reaktion wiederum löst Schuldgefühle bei Kindern aus und verhindert deren Selbständigkeit.
Die Therapeutin aus Innsbruck kennt beide Seiten: Eltern, die Schwierigkeiten haben, ihre Kinder in ein eigenverantwortliches Leben zu entlassen – und Kinder, die sich ein eigenständiges Leben erst gar nicht zutrauen.
Eigentlich ist es paradox. Denn die Folgen der vermehrten Kontrolle stehen ganz und gar im Gegensatz zum Ziel der Erziehung. «Gesellschaftliche Wertvorstellungen beeinflussen, wie erzogen werden soll», sagt der Entwicklungspsychologe Markus Paulus von der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
In der westlichen Welt werden Individualität und Autonomie hochgehalten. Und so sei die Idee von Erziehung hierzulande, Kinder darin zu bestärken, als eigenständige Personen in die Welt hinauszugehen, sagt Paulus.
Kulturelle Eigenheiten können die Ablösung erschweren
An anderen Orten der Welt etwa sind sogenannte «filiale Verpflichtungen», also die Vorstellung, dass Kinder sich um ihre alten Eltern kümmern und Kontakt halten müssen, stärker verankert: in Asien, aber auch traditionell in Italien, Spanien oder Griechenland. Die Tatsache, dass es diese Verpflichtungen gibt, erschwert die Ablösung von den Eltern.
Das bestätigt auch Newsha. «Bei uns», sagt sie und meint damit die persische Kultur ihrer Ursprungsfamilie, «ist es nicht so, dass junge Erwachsene sofort ausziehen, sobald sie ein Studium beginnen. Man bleibt eingebunden.»
In Iran sind Familien traditionellerweise Grossfamilien, auch wenn sie, wie im Fall von Newshas Familie, nicht am gleichen Ort leben. Als ihre Töchter klein waren, reisten die Grosseltern aus Teheran an und blieben für mehrere Wochen in Deutschland. Das Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter empfand Newsha lange Zeit als schwierig. Erst jetzt, da ihre Mutter alt ist und Unterstützung braucht, kann sie ihr entspannter begegnen.
Eltern, die es geschafft haben, sich von ihren Kindern zu lösen und jenseits der Elternrolle mit sich und ihrem Leben zufrieden zu sein, begegnen ihren Kindern offen und frei von Vorwürfen. Darin sind sich Psychologen einig. Und wer bei Treffen mit seinen Eltern aufgehört hat, sich als Kind zu fühlen und keinerlei Schuldgefühle seinen Eltern gegenüber hegt, kann davon ausgehen, dass das Ablösen gut verlaufen ist.
Heute betrachtet Newsha das Erwachsensein ihrer Kinder mit Wohlwollen – und etwas Wehmut: «Wir sind jetzt mehr auf Augenhöhe miteinander. Die Liebe bleibt, trotz Distanz.» Zwar sei es grausam für sie gewesen – «wie ein schlechter Traum». Weil auf einmal ihre Rolle weggefallen sei. Sie habe Zeit gebraucht, um damit klarzukommen. «Doch zum Glück habe ich meine Arbeit», sagt Newsha. «Sie erfüllt mich, und das hilft.»
Ein Artikel aus der «»