Samstag, Oktober 19

Für den Umstieg auf E-Autos braucht es laut Stephan Weil staatliche Anreize. Aber es gebe bessere Lösungen als eine Kaufprämie, sagt er im Interview. Zudem erklärt der Sozialdemokrat, woran es dem CDU-Chef Friedrich Merz seiner Meinung nach mangelt, um Kanzler zu werden.

Herr Weil, das Bundesland Niedersachsen ist mit 20 Prozent der Stimmrechte Grossaktionär bei VW. Die Vorzugs- und Stimmrechtsaktien haben seit 2021 rund zwei Drittel an Wert verloren. Was ist der Grund für den Absturz?

Die Autoindustrie insgesamt befindet sich durch den Wechsel zum Elektroantrieb, die Digitalisierung und neue Wettbewerber in einem schwierigen Umbauprozess. Das drückt sich auch in den Kursen aus. Ebenso wie andere Unternehmen wird auch VW durch eigene Anstrengungen die Basis dafür schaffen müssen, dass der Kurs wieder steigt.

Würden die beiden Aktientypen vereinheitlicht, könnte der Aktienkurs explodieren. Zudem würde der Konzern von seinen politischen Fesseln befreit, da der Anteil von Niedersachsen unter die Sperrminorität von 20 Prozent sänke. Ist das für Sie denkbar?

Das ist nicht vorgesehen. Es ist genau 75 Jahre her, dass sich Niedersachsen bei Volkswagen engagiert hat. In dieser Zeit ist aus einer unbedeutenden Autofirma irgendwo in Niedersachsen ein Weltkonzern geworden. Dazu hat Niedersachsen einen starken Beitrag geleistet – und das soll so bleiben.

Eine andere Idee wäre, den Anteil komplett zu verkaufen. Mit den Milliarden könnten Sie einen Staatsfonds nach norwegischem Vorbild gründen.

Auch das haben wir nicht vor. VW spielt in der niedersächsischen Wirtschaft eine bedeutende Rolle. Und es ist auch im Interesse des Konzerns, dass es bei einer langfristigen und verlässlichen Beteiligung Niedersachsens bleibt. Allerdings gilt auch: Ganz unabhängig von der Eigentümerstruktur muss das Unternehmen wettbewerbsfähig sein.

Ein gutes Stichwort: Die Marge der Marke VW ist mit 2,3 Prozent die schlechteste aller Konzernmarken. Das liegt an den deutschen Werken. Ist das darauf zurückzuführen, dass sich die beiden niedersächsischen Politiker im Aufsichtsrat bei harten Entscheiden stets auf die Seite der Gewerkschaft stellen?

Nein, und die Situation ist auch eine andere. Ich bin seit mehr als zehn Jahren im Aufsichtsrat und kann sagen, dass es dort fast durchweg gelungen ist, einvernehmliche Beschlüsse zu fassen. Allen Beteiligten und auch der Mitarbeitervertretung ist bewusst, dass das Unternehmen in der Lage sein muss, am Markt zu bestehen.

Die niedersächsischen Mitarbeiter geniessen herausragende Löhne und Konditionen. Geht das auf Kosten ihrer Kollegen in Tschechien, Spanien und anderen Ländern?

Die Situation bei Volkswagen ist nicht anders als bei anderen grossen Unternehmen. Wir haben in Deutschland zwar ein anderes Lohnniveau als in süd- oder osteuropäischen Ländern, aber letztlich handelt es sich um eine Mischkalkulation. Der Konzern produziert viel im Ausland zu günstigen Bedingungen, aber eben auch in Deutschland zu höheren Kosten und dort zumeist in Verbindung mit einer höheren Wertigkeit der Produkte.

Das Management will jetzt betriebsbedingte Kündigungen aussprechen und erwägt sogar Werksschliessungen. Gegen Letztere haben Sie sich vehement ausgesprochen. Warum, das würde die Wettbewerbsfähigkeit doch steigern?

Ich habe die klare Erwartung, dass in den Verhandlungen Lösungen herauskommen, die intelligenter sind als die schlichte Schliessung von Standorten. Letztgenanntes würde dazu führen, dass die Industrie an diesen Standorten für immer verschwindet.

Würden Sie Werksschliessungen bei VW im Aufsichtsrat blockieren?

Alle Beteiligten kennen meine Erwartungen. Der Aufsichtsrat wird in diesem Prozess erst am Ende sein Votum abgeben. Davor liegen schwierige Verhandlungen, und deren Ergebnisse warte ich jetzt ab.

Ab dem 1. Dezember dürfen die IG-Metall-Mitglieder streiken. Ist das noch zu verhindern?

Ja, und zwar durch eine Einigung, am besten möglichst schnell. Man muss bedenken, dass die laufenden Diskussionen für Hunderttausende Menschen eine grosse Belastung sind. An dieser Stelle zügig Klarheit und Sicherheit zu geben, sollte das Ziel der Verhandlungspartner sein.

Die SPD-geführte Bundesregierung hat Ende 2023 über Nacht die Kaufprämie für E-Autos abgeschafft. Jetzt rudert Ihre Partei offenbar wieder zurück.

Die Abschaffung war ein Fehler. Die Absatzzahlen sind sofort zurückgegangen und haben sich nicht erholt. Jetzt schlägt der Bund für Dienstwagen bessere Abschreibungsbedingungen vor. Das halte ich für richtig. Nicht akzeptabel wäre für mich aber, wenn Dienstwagen gefördert würden, Privatwagen dagegen nicht. Ich kann mir ein System von Steuerermässigungen auch für den Kauf von Privatwagen vorstellen. Das Wort E-Auto-Prämie werden Sie dagegen im Beschluss des Parteipräsidiums vom letzten Sonntag nicht finden. Das ist kein Zufall.

Sie selbst fahren ein Auto mit Verbrennungsmotor. Warum gehen Sie nicht mit gutem Beispiel voran, wenn Sie die Bürger vom E-Auto überzeugen wollen?

Da packen Sie mich bei meinem schlechten Gewissen. Wir haben einen nicht ganz jungen Golf, der aber nach wie vor gut fährt, und wir fahren auch nicht besonders viel damit. Aber meine Frau und ich sind uns einig, dass das nächste Auto einen Elektroantrieb haben wird.

In der EU gelten ab 2025 deutlich härtere CO2-Einsparziele für die Autobranche. Bei der Verfehlung drohen hohe Strafzahlungen. Sollte man diesen Zeitplan überarbeiten?

Bei der Festlegung der Flottenobergrenzen wurde von einem Anstieg des E-Auto-Absatzes ausgegangen. Dass es die Marktentwicklung nicht gibt, ist gewiss nicht in erster Linie ein Fehler der Industrie. Gründe sind vielmehr die zahlreichen Krisen, die hohen Stromkosten und der bereits erwähnte Stopp der Förderung durch die Politik. Die EU sollte jetzt die Überprüfung der angedachten Massnahmen vorziehen. Ausserdem plädiere ich dafür, die Vorgaben für die Branche nicht in einem dreijährigen Rhythmus stufenweise zu erhöhen, sondern jedes Jahr ein wenig anzupassen. Man bekäme dann einen rampen- statt eines treppenartigen Verlaufs. In dieser Situation den Unternehmen durch Strafzahlungen auch noch Liquidität zu entziehen, nützt niemandem.

Niedersachsen ist nicht nur an Volkswagen beteiligt, sondern auch am Stahlhersteller Salzgitter und seit kurzem an der Meyer-Werft. Alle drei Firmen sind Problemfälle, übernimmt sich das Land damit?

Nein. Der Einstieg bei der Meyer-Werft ist befristet. Wir haben das nur getan, weil das Unternehmen akut von der Insolvenz bedroht war, wir aber zugleich von seiner Zukunftsfähigkeit überzeugt sind. Die Salzgitter AG hat eine grosse, regionalwirtschaftliche Bedeutung und schlägt sich in einem schwierigen Marktumfeld durchaus beachtlich. Wäre das Land Niedersachsen im Übrigen nicht in Papenburg und in Salzgitter eingestiegen, würde es diese beiden Unternehmen in Niedersachsen nicht mehr oder zumindest nicht mehr so geben. Das gilt letztlich wohl auch für Volkswagen. In der Summe ist der öffentliche Nutzen dieser Beteiligungen um ein Vielfaches höher als potenzielle Lasten.

Kritiker sagen, der Einstieg bei der Meyer-Werft werde den nötigen Strukturwandel nur verzögern und das Geld wäre besser für dessen Abfederung oder die Bildung eingesetzt worden.

Wir haben uns diese Frage sehr ernsthaft gestellt und sind zu der Überzeugung gekommen, dass die Meyer-Werft sehr wohl Perspektiven hat. Das Unternehmen hat Aufträge über 11 Milliarden Euro in den Büchern, die die Kapazitäten bis in die 2030er Jahre hinein auslasten. Und es gibt sehr gute Referenzen von grossen Reedereien.

Unternehmen in Deutschland klagen über hohe Energiekosten. Die SPD möchte offenbar die Kompensation für hohe Strompreise ausweiten.

Die Energiepreise sind inzwischen deutlich gesunken, in anderen Regionen der Welt aber liegen die Preise immer noch weit unter dem hiesigen Niveau. Das erschwert es energieintensiven Branchen wie Chemie, Glas oder Stahl sehr, sich auf dem Weltmarkt zu behaupten. Gleichzeitig werden in Deutschland die Netzentgelte in den nächsten 10 bis 15 Jahren kontinuierlich weiter stark steigen, weil durchgängig viel in die Netze investiert werden muss. Diese Kosten werden derzeit ausschliesslich auf Privat- und Firmenkunden umgelegt, und das ist naturgemäss eine besondere Belastung für energieintensive Unternehmen. Deutschland braucht in dieser Hinsicht einen Systemwechsel. Autobahnen werden bei uns auch nicht von den Nutzern finanziert, sondern weitgehend aus der Steuerkasse.

Der Staat soll also den Ausbau des Stromnetzes finanzieren?

Ja, und damit alle Steuerzahler, private wie gewerbliche. Wir müssen herauskommen aus der Situation, dass beispielsweise eine kleine Gruppe von energieintensiven Unternehmen einen besonders hohen Anteil der Kosten trägt. Am Beispiel des Wasserstoffnetzes, das derzeit in Deutschland errichtet wird, zeigt sich dieses Dilemma. Noch gibt es nur wenige Unternehmen, die sich auf der Basis von Wasserstoff versorgen. Nach heutigem Stand müssten sie den Aufbau des Netzes finanzieren. Das kann nicht aufgehen. Wir müssen aber auch prüfen, ob wir wirklich so viel Netzausbau brauchen oder ob wir nicht sehr viel stärker dafür sorgen müssen, dass Energie dort genutzt wird, wo sie produziert wird.

Wie soll das gehen?

Derzeit müssen im Norden Deutschlands immer wieder zahlreiche Windkraftanlagen vom Netz genommen werden, weil die nach Süden führenden Leitungen überlastet sind. Das kostet die Verbraucher sage und schreibe 3 Milliarden Euro pro Jahr und ist ökonomisch Unfug. Viel klüger wäre es, diese Energie zu produzieren und sie dann wesentlich günstiger ortsnah abzugeben, ohne dabei die Übertragungsnetze zu belasten. Ich kann niemandem erklären, warum er an der Nordsee genauso viel für Netzentgelte bezahlen soll wie in Garmisch-Partenkirchen.

Das wäre im Sinne Ihres Bundeslandes mit den vielen Windparks an der Küste.

In der Tat, das gilt aber auch für andere deutsche Regionen, denken Sie an Länder mit viel Wasserkraft. Solche Phasen in der Wirtschaftsgeschichte hat es immer wieder gegeben. Der industrielle Aufstieg des Westens von Deutschland hing zusammen mit der Kohle, jener des Südens mit der Atomenergie. Den nächsten industriellen Boom wird es in Norddeutschland geben – Industrie folgt Energie. Das wäre gut für unsere ganze Volkswirtschaft.

Neben den Energiekosten strapazieren auch hohe Löhne und Sozialabgaben die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Firmen. Trotzdem fordert die SPD eine Anhebung des Mindestlohns von 12 auf 15 Euro.

Ja, denn wer voll arbeitet, muss eine einigermassen auskömmliche Altersversorgung bekommen und soll nicht gezwungen sein, zum Sozialamt oder zum Jobcenter zu laufen. Und es kommt noch etwas anderes dazu: Wegen des Arbeitskräftemangels haben Arbeitnehmer eine andere Marktposition als früher. Die 15 Euro werden in sehr vielen Bereichen automatisch kommen.

Warum mischt sich die SPD dann ein? Für die periodische Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns wurde eine unabhängige Kommission mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern geschaffen.

Die Erfahrung, die wir damit gemacht haben, war leider nicht gut. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hatten wir eine enorme Teuerung in Deutschland. Die schlug sich in den Tarifabschlüssen nieder, aber nicht beim Mindestlohn. Und in der Kommission war der notwendige Ausgleich mangels der entsprechenden Mehrheit nicht möglich.

Lassen Sie uns über Hannover sprechen. Hier sind Sie gross geworden, und hier hat die Landesregierung ihren Sitz. Der Begriff «Maschsee-Mafia» wird Ihnen geläufig sein.

Er stammt aus der Zeit vor zwanzig Jahren und war eigentlich immer ein Mythos.

Er beschreibt ein Netzwerk von SPD-Politikern, deren Karrieren alle in und um Hannover begonnen haben. Derzeit fallen einem der Parteichef Lars Klingbeil, der neue Generalsekretär Matthias Miersch und die Bundesminister Hubertus Heil und Boris Pistorius ein. Ihr Landesverband ist bemerkenswert mächtig.

Ihre Beschreibung mag uns in Niedersachsen und in Hannover schmeicheln, aber es verhält sich anders. Die Berufungen von Boris Pistorius und Matthias Miersch zum Beispiel waren nicht Teil irgendeines Plans, sondern Entscheidungen, die aus der Situation heraus getroffen werden mussten. Und es waren gute Entscheidungen! Da sind wir vielleicht beim eigentlichen Kern. Die niedersächsische SPD hat zum Glück immer wieder ein gutes Personalangebot, das auch auf der Bundesebene helfen kann.

Sie haben den Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius zuvor dreimal zum Innenminister in Niedersachsen gemacht und sind mit ihm befreundet. Heute ist er laut Umfragen der beliebteste Politiker Deutschlands. Viele sagen: Der wäre ein guter Kanzler. Was sagen Sie?

Erst einmal ist er ein herausragender Verteidigungsminister. Und was den Bundeskanzler angeht, da ist die Planstelle bekanntlich besetzt.

So unbeliebt wie Olaf Scholz war lange kein deutscher Regierungschef. Nur dort, wo er im Wahlkampf explizit unerwünscht war, etwa in Brandenburg, konnte Ihre Partei in jüngerer Zeit noch gewinnen.

In einer Zeit, in der so viele Umbrüche stattfinden, ist die Erwartung der Menschen an die Politik besonders gross, Sicherheit und Orientierung zu geben. Und diese Erwartung ist in einer Dreierkoalition, in der Konsens die Ausnahme ist und Streit der Regelfall, leider nur schwer einzulösen.

Wann ist der Konflikt in der Bundesregierung die Regel geworden?

Die «Ampel» hatte einen guten Start. Das Krisenmanagement bei der Bewältigung der Energiekrise in den Jahren 2022 und 2023 war exzellent. Der Kipppunkt war das Heizungsgesetz. Dieses Vorhaben hatte eine schlimme öffentliche Wirkung. Danach ist es nach meinem Eindruck nicht wieder gelungen, in einen gemeinsamen Modus zurückzukehren. Stattdessen folgten öffentliche Auseinandersetzungen zu allen möglichen Themen. Das bezieht sich vor allem auf das Gebaren der FDP, aber zum Teil auch auf jenes der Grünen.

Die SPD spielt doch dasselbe Spiel. Die Koalition war sich einig über eine 1000-Euro-Prämie für Langzeitarbeitslose, die eine Arbeit aufnehmen. Doch als Kritik aufkam, hat sich Kanzler Scholz öffentlich distanziert. Alles wurde dem grünen Wirtschaftsminister in die Schuhe geschoben.

Wenn ich es recht verstanden habe, war das in der Tat eine Initiative des Wirtschaftsministers. Und auch ich würde sie nicht als überzeugend bezeichnen.

Rechnen Sie mit einer Neuwahl vor dem regulären Termin im Herbst 2025?

Die Zentrifugalkräfte werden spürbar stärker. Aber ich rechne nicht damit.

Sie selbst haben angekündigt, bei der nächsten Landtagswahl 2027 nicht wieder zu kandidieren. Warum eigentlich? Sie werden dann 68 Jahre jung sein.

Das stimmt. Und für eine amerikanische Präsidentschaftswahl wäre ich wahrscheinlich zu jung. (Lacht.) Ich habe seit über einem Vierteljahrhundert hervorgehobene öffentliche Ämter. Das merkt man irgendwann.

Friedrich Merz, der Kanzlerkandidat der Union, ist heute so alt, wie Sie sein werden, wenn Sie Ihre Karriere beenden. Was kann Olaf Scholz, was sein Herausforderer nicht kann?

Regieren. Ich bin aus nachvollziehbaren Gründen weit entfernt davon, Friedrich Merz sein Alter vorzuhalten. Aber er hat eben noch keinen einzigen Tag in seinem Leben richtig Verantwortung getragen. Und das macht etwas mit Menschen. Da weiss ich, wovon ich rede. Und ich glaube, dass Menschen in diesem Alter, in meinem Alter, nicht mehr unbegrenzt lernfähig sind.

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