Dienstag, April 29

Sebastian Hartmann hat sich einst als Theater-Rebell in Stellung gebracht. Unterdessen zählt er zu den profiliertesten deutschsprachigen Regisseuren. Im Schiffbau inszeniert er «Also sprach Zarathustra» von Friedrich Nietzsche.

Die graumelierten Strähnen wuchern von der hohen Stirn nach hinten. Die Furchen in der Frisur lassen erahnen, dass sich da einer oft die Haare rauft. Sebastian Hartmann ist es wichtig, dass er klarkommt mit seinen Gedanken, um sich im Gespräch möglichst differenziert auszudrücken.

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Auf Fragen hin dreht sich der deutsche Theaterregisseur immer wieder nachdenklich zur Seite. Sein Blick fällt dann irgendwo auf das Mobiliar oder, als fänden sich hier die Antworten, auf den blanken Boden im morgendlich verwaisten Foyer des Zürcher Schiffbaus. Hier arbeitet er gerade an einer Inszenierung von Nietzsches «Also sprach Zarathustra».

Jenseits von Gut und Böse

Bald aber richtet er sich wieder auf, um einem aus seinen sanguinisch-flackernden, von einer Goldbrille umrahmten Augen frontal und selbstsicher entgegenzublicken. «Ich finde, unsere Welt ist so ausser Rand und Band, dass ich mich nicht auf Begriffe wie ‹gut› und ‹böse› beschränken kann.» In seinem Theater gehe es deshalb nicht um Täter und Opfer und einen läuternden Konflikt. Vielmehr versuche er dem Publikum «offene Denkräume» zu bieten.

Die Stimme ist laut und deutlich, die Worte aber fallen ohne pathetischen Nachdruck. Hartmann will nicht belehren. Vielmehr scheint er sich selbst zu erklären zu versuchen, weshalb er statt fertiger Stücke immer wieder auch Texte inszeniert, die nicht unbedingt für die Bühne vorgesehen wären. «Der Zauberberg» von Thomas Mann, zum Beispiel, oder «Der Idiot» von Dostojewski.

Solche Adaptionen scheinen dem Regisseur mehr Möglichkeiten zu bieten, «zwischen Konflikte zu schaun», wie er sagt. Und das gilt jetzt auch für die Inszenierung von Nietzsches «Zarathustra» – ein Buch «für alle und keinen», wie es im Untertitel heisst.

Das sei eigentlich nicht seine Idee gewesen; vorgeschlagen habe ihm die Nietzsche-Inszenierung vor anderthalb Jahren Ulrich Khuon, der interimistische Intendant des Zürcher Schauspielhauses. Im deutschen Philosophen aber scheint Hartmann eine Art Geistesverwandten gefunden zu haben, mit dem er alte oder simple Deutungsmuster zu überwinden versucht. Nietzsche sei ein «absoluter Begriffs-Auflöser». Anhand seiner Texte liessen sich die Ideen der Freiheit neu vergegenwärtigen – jenseits «propagandistischer oder ideologischer Vereinnahmung».

Hartmanns Skepsis gegenüber Ideologien ist auch auf seine Biografie zurückzuführen. 1968 wurde er in Leipzig in eine Familie von Theater-Profis geboren. Als er in Leipzig die Schauspielakademie besuchte, regierte in Berlin noch Erich Honecker. Bei Künstlern aus der DDR wird regelmässig gefragt, ob sie zu den heroischen Dissidenten oder zu den Angepassten zählten. Im Falle von Hartmann aber ist die Antwort nicht so simpel: «Ich mochte vieles in der DDR», sagt er. Sein Grossvater und seine Eltern hätten aufrichtig an die sozialistischen Ideale geglaubt. Er erinnert sich an «offene, kontroverse Diskussionen».

Theater als soziale Plastik

Als er später aber in der Nationalen Volksarmee seinen Wehrdienst leistete, landete er wegen Kleinigkeiten im Knast: «Weil ich mich rechtsrum gedreht habe, wenn es linksrum hiess.» Und als es dann zu Ende ging mit der sozialistischen Herrschaft, mischte sich Hartmann unter die Demonstranten auf Leipzigs Strassen. Das Ziel der Demonstranten sei das Ende der Diktatur gewesen und nicht eine kapitalistische «Filialerweiterung Ost». Tatsächlich habe er damals an einen dritten Weg geglaubt, an eine neue Alternative zu Kapitalismus oder DDR-Sozialismus.

Die ehemalige DDR aber sei vom kapitalistischen Westen förmlich überrollt worden mit Mercedes- und Hornbach-Niederlassungen. Dass heute im Osten Deutschlands überall die AfD triumphiert, führt er auf fehlende politische Sensibilität zurück. «Man hat in den letzten dreissig Jahren nicht hingeguckt, was mit diesen 16, 17 Millionen passiert ist.» Die meisten AfD-Wähler würden zu Unrecht als «Nazis» diffamiert. «Ich würde nie AfD wählen, ich werde übellaunig, wenn ich Herrn Höcke nur sehe. Aber zu einer Gesellschaft gehören unterschiedliche Standpunkte.» Man mache deshalb einen grossen Fehler, wenn man die ostdeutschen Wähler weiterhin übergehe.

Aus seiner kritischen und kämpferischen Einstellung heraus hat Hartmann in den neunziger Jahren eine Theatergruppe formiert: das «wehrtheater Hartmann». Der Gründung gingen allerdings auch Frustrationen als Schauspieler voraus. Zwei Jahre habe er beim Theater, zwei Jahre bei Film und Fernsehen gearbeitet. «Da habe ich meine Mittelmässigkeit festgestellt.» Berüchtigt aber war er vor allem für seinen Hochmut. Oft habe er Schauspielerkollegen beraten oder kritisiert, bis einer irgendwann geschrien habe: «Mach’s doch selber.»

Das nahm er sich zu Herzen. Er mietete in Berlin einen Proberaum, was damals billig war. «Und dann hab ich einfach so getan, als ob ich jetzt ein eigenes Off-Theater habe.» Damit wollte er sich einerseits vom «verbeamteten» Stadttheater distanzieren. Andrerseits konnte er so Ausdrucksformen entwickeln, die sein Theaterschaffen bis heute prägen.

Der deutsche Regisseur orientiert sich an der bildenden Kunst, namentlich an Joseph Beuys’ Idee einer sozialen Plastik. Seine Inszenierungen zeigen eine Lust an grossen Gesten und zeitlosen Stoffen. Wo Sebastian Hartmann Theater macht, geht es meist um grosse Themen wie Liebe, Tod und Apokalypse. Und die Kritiken quittieren die Aufführungen mit sprachlichen Böllerschüssen wie «mächtig», «bildgewaltig», «überwältigend».

Neue Entdeckungen

Längst zählt Sebastian Hartmann, der für fast alle grossen deutschsprachigen Theater arbeitete und 2008 bis 2013 als Intendant in Leipzig fungierte, zu den profiliertesten Persönlichkeiten der deutschen Theaterszene. In der Schweiz indes war Hartmann bisher kaum präsent. Er hat einst in Basel inszeniert, fühlte sich da aber nicht recht wohl. Er habe viele nette Schweizer kennengelernt, aber ihn habe das «unglaubliche Sicherheitsbedürfnis» in der teuren Schweiz irritiert.

Wenn der Theatermacher jetzt glücklich zu sein scheint in Zürich, liegt das wiederum nicht daran, dass er die Schweiz neu entdeckt. Neue Entdeckungen verdankt er vielmehr der Arbeit an «Zarathustra». Voller Begeisterung spricht er von Nietzsche, der die Zeitgenossen von den Zwängen der stockbiederen Gesellschaft zu befreien versucht habe. Nietzsches Gedanken über Freiheit und Liebe aber gälten auch heute noch.

Allerdings hat Hartmann im Originaltext nun doch einige Stellen gestrichen. Die Funktion des als eine Art Refrain wiederholten Titels «Also sprach Zarathustra» hat ihn gestört. Weshalb? Wieder schaut er für einen Moment nachdenklich zur Seite. Der gebetsartige Duktus, erklärt er dann fast verstohlen, habe ihn an Verlautbarungen Erich Honeckers gemahnt.

Also habe er entschieden: «Alles, was Offenbarungseid ist, raus! Alles, was Verkündung ist, raus!» So hat er sich einen Freiraum geschaffen für seine Zürcher Inszenierung, in der auch gemalt und getanzt werden soll. Mit seinem Gesamtkunstwerk aber möchte Hartmann vor allem eines zeigen: Friedrich Nietzsches Ideal des Übermenschen habe nichts zu tun mit Typen wie Putin oder Trump. «Nietzsches Übermensch – das ist der zärtlichste Mensch, den man sich überhaupt vorstellen kann.»

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