Montag, Oktober 7

Die Region Nicoya ist eine «Blue Zone». Das heisst, ihre Bewohner leben überdurchschnittlich lange. Warum das nicht nur an ihrer gesunden Ernährung liegt.

Oleli Carillo winkt schon von weitem. Er sitzt auf einem Schaukelstuhl vor seinem Haus. Der Schatten eines Mangobaums fällt auf seine Veranda. Bereits seit frühmorgens sitzt Carillo hier. Geht jemand vorbei, den er kennt – und mit 90 Jahren kennt er fast alle im Dorf –, hebt er die Hand und hält einen kurzen Schwatz. «Ich bin zufrieden und glücklich», sagt Carillo im Gespräch immer wieder, ohne dass er danach gefragt würde. «Gracias a Dios» – Gott sei Dank, fügt er jeweils hinzu und lächelt friedlich. Es ist für ihn mehr als eine Floskel.

Die Halbinsel Nicoya im Nordwesten Costa Ricas ist bekannt für ihre üppig grünen Hügellandschaften, für malerische Palmenstrände und kitschig-rosarote Sonnenuntergänge. Es gibt Tiere und Früchte, die nur in dieser Region des Landes vorkommen. Die Schönheit dieser Region hat zahlreiche Ausländer angezogen: Teile der Küste sind heute gesäumt mit teuren Strandhäusern, hippen Surfer-Cafés und amerikanischen Boutiquen.

Vor ein paar Jahren erlangte die Region aber aus einem ganz anderen Grund Berühmtheit: Sie ist eine sogenannte Blaue Zone, also eine Region, in der die Menschen überdurchschnittlich lange und gesund leben sollen. Forschungen besagen, auf dieser Halbinsel sei die Chance, älter als 100 Jahre zu werden, dreieinhalbmal so hoch wie im globalen Durchschnitt.

Es sind aber nicht die braungebrannten Surfer mit einem Almond-Flat-White-Kaffee in der einen und einem Schrittzähler an der anderen Hand, die Nicoya zur Blue Zone machen. Es sind Menschen wie Oleli Carillo, die in ihrem Leben keine Gesundheitsbücher gelesen haben und sich keine Gedanken über einen aktiven Lifestyle machen. Sie leben einfach so, wie es ihre Eltern und Grosseltern schon getan haben.

Was machen sie anders als der Rest der Welt?

Familie ist ein entscheidender Faktor für die Langlebigkeit

Der Journalist Dan Buettner hat das Phänomen erstmals 2005 im Magazin «National Geographic» beschrieben und seither mehrere Bücher darüber verfasst. Er kürte weltweit fünf Regionen zu sogenannten Blue Zones: Okinawa in Japan, Sardinien in Italien, Ikaria in Griechenland, Loma Linda in Kalifornien – und die Nicoya-Halbinsel Costa Ricas.

Die letzte Wahl mag erstaunen: Die Nicoya-Halbinsel ist mehrere Reisestunden von der Hauptstadt San José entfernt, die Gesundheitsversorgung ist schlechter, der Lebensstandard tiefer. Doch genau diese isolierte Lage hat es ermöglicht, dass die Bewohner überdurchschnittlich alt werden: Der Einfluss von aussen war lange Zeit sehr eingeschränkt, die Kultur wurde länger bewahrt. Und diese ist ein entscheidender Faktor, weshalb es den Bewohnern so lange so gut geht. Doch dazu später.

Oleli Carillo hat sein ganzes Leben in der Region verbracht. Sein Radius ist klein, ein Auto hat er nie besessen. Musste er irgendwo hin, ging er zu Fuss, manchmal auch zu Pferd. Strassen habe es hier früher keine gegeben, «höchstens Trampelpfade». Das Haus, vor dem er sitzt, hat er selbst gebaut. «Bis vor kurzem habe ich noch fast täglich Handwerksarbeiten erledigt, inzwischen brauche ich etwas mehr Ruhe.» Das macht ihm nichts. Der 90-Jährige hat zwar viel gearbeitet, aber so etwas wie Hektik hat es in seinem Leben nie gegeben. «Wir haben Zeit hier», sagt er schmunzelnd.

Als Carillo erzählt, erklingen aus dem Haus Hammerschläge und Schleiflärm. Zwei seiner Söhne leben bei ihm, sie erneuern gerade die Küche. Ein weiteres seiner insgesamt elf Kinder lebt ebenfalls in der Nachbarschaft. «Sie schauen zu mir. Und ich geniesse es, dass ich immer Gesellschaft habe», sagt er.

Die Kultur Costa Ricas – und besonders die Subkultur auf der Nicoya-Halbinsel – ist sehr kollektivistisch geprägt: Das Wohl der Gemeinschaft steht über jenem des Einzelnen. Oder anders gesagt: Einer einzelnen Person kann es nur gut gehen, wenn es der Gemeinschaft um sie herum gut geht. Welcher Familie man angehört, ist zum Beispiel wichtiger als der Beruf, den man als Individuum ausübt.

Die Abgeschiedenheit der Halbinsel hat diesen Zusammenhalt noch verstärkt: Man musste sich aufeinander verlassen. Die Beziehungen innerhalb der Familie sind so eng, dass ältere und schwächere Menschen oft bis zuletzt gut umsorgt werden – und kaum vereinsamen.

Der Journalist Dan Buettner hat bei seiner Arbeit über alle fünf Blauen Zonen festgestellt, dass gute Beziehungen einer der wichtigsten Faktoren für Langlebigkeit sind. Die über Hundertjährigen, auf die sich Buettner fokussierte, lebten alle eingebettet in eine engagierte Gemeinschaft: Fast alle wohnten mit ihrer Familie zusammen und pflegten einen engen Kontakt zu ihrer Nachbarschaft. Buettner schreibt: «Die Hundertjährigen, die wir in den Blue Zones getroffen haben, setzen ihre Familie an die erste Stelle. Sie haben geheiratet, Kinder bekommen und ihr Leben um diesen Kern herum aufgebaut.»

Kaum Fleisch, keinen Alkohol, dafür viel Bohnen und Reis

In Nosara, dem Dorf von Oleli Carillo, treffen sich zweimal pro Woche 22 Senioren. Sie gehen gemeinsam schwimmen, tanzen, sie unternehmen Ausflüge oder sitzen bei einem Kaffee plaudernd beieinander. Ihre Gemeinschaft nennen sie schlicht «el Grupo» – die Gruppe.

Veronica Ruiz ist eine treue Besucherin, mit ihren 74 Jahren zählt sie zu den Jüngsten der Gruppe. Sie ist mit dem Velo zum Gespräch gekommen, zur Bibliothek im Dorf. «Ich reise überallhin mit dem Fahrrad. Ich habe so viel Energie, das glaubt gar niemand.»

Veronica Ruiz’ Lebensstil zeigt stellvertretend, weshalb die Leute in der Region so alt werden. Wie die meisten ihrer Freunde steht Ruiz morgens um fünf Uhr auf, pünktlich zum Sonnenaufgang, um acht Uhr wird sie wieder ins Bett gehen. Sie isst dreimal am Tag eine Portion Gallo Pinto, das costa-ricanische Nationalgericht: Es besteht typischerweise aus Reis vom Vortag, Bohnen, Koriander und manchmal etwas Ei. Dazu isst sie viele Gemüse, Früchte, Tortilla und «ab und zu ein wenig Poulet oder Fisch». Süsses esse sie kaum, sagt Ruiz: «Überhaupt kommt unsere lokale Küche mit sehr wenig Zucker oder Fett aus. Einzig zum Anbraten benutze ich ein wenig Schweineschmalz.»

Alkohol trinkt Veronica Ruiz nie. Und auch Oleli Carillo betont: «Ich habe mein Leben lang keinen Likör oder Wein getrunken. Ich wollte immer bei Sinnen sein.» Und auch sein Speiseplan ist fast identisch mit jenem von Ruiz.

Dan Buettner hat herausgefunden, dass die Menschen in den Blue Zones nur etwa ein Zehntel so viel Fleisch essen wie ein durchschnittlicher Amerikaner. Stattdessen seien über 90 Prozent ihrer Nahrung pflanzenbasiert und weitgehend unverarbeitet.

In Veronica Ruiz’ Garten wachsen Oregano, Zitronengras, Koriander und zahlreiche weitere Kräuter. «Die Natur stellt uns gute Medizin zur Verfügung», sagt sie. Als sie ein Kind war, gab es keinen Doktor im Dorf, und das nächste Spital war einen mehrstündigen Ritt entfernt. «Also mussten sich die Leute selbst zu helfen wissen. Wir waren fast nie krank. Es gab ja all die Hausmittelchen vor der Tür.»

Religiös zu sein, senkt Risiko für einen frühen Tod

Es sind aber nicht nur die gesunde Ernährung und ein aktiver Lebensstil, die massgeblich zur Langlebigkeit beitragen. Da ist zum Beispiel das costa-ricanische Lebensgefühl, es nennt sich «pura vida», auf Deutsch: pures Leben, und es hat sich tief in die Kultur eingeprägt.

Was wie ein abgedroschener Slogan einer Reiseagentur klingt, sagen die Costa Ricaner in allen möglichen Situationen: zum Beispiel auf die Frage, wie es gehe, oder als Antwort auf ein «Dankeschön!». «Pura vida» wird aber nicht nur gesagt, sondern gelebt: Die Costa Ricaner verstehen es, das Leben zu geniessen, ganz im Hier und Jetzt – auch wenn es noch so einfach ist. «Pura vida» ist die Philosophie, trotz allen Widrigkeiten zufrieden zu sein und sich nicht zu viele Gedanken um die Zukunft zu machen.

Fragt man beispielsweise Veronica Ruiz oder Oleli Carillo, ob sie gerne 100 Jahre alt werden möchten, können sie mit der Frage nicht viel anfangen. Sie planen nicht, was nächste Woche oder nächstes Jahr sein wird. Für sie zählt, dass der heutige Tag ein guter Tag ist.

Es gibt noch einen weiteren Grund für die ungebrochene Zuversicht der Nicoya-Bewohner: Sie glauben an einen Gott, der zu ihnen schaut – und dass deshalb alles irgendwann gut kommen wird. «Ja natürlich glaube ich an Gott», sagt Veronica Ruiz. «Ich bete jeden Tag, bitte ihn um Kraft und darum, dass er meine Familie beschützt.»

Vor ein paar Jahren hat Ruiz ihren ältesten Sohn, der in den USA lebte, an Krebs verloren, ein weiterer sei den Drogen verfallen. Doch sie habe sich den Glauben an das Gute bewahrt. Es sei für sie keine Option, zu verbittern: «Ohne meinen Glauben hätte ich das alles gar nicht durchgestanden.»

Auch Oleli Carillo betet regelmässig. «Nicht für materielle Dinge», sagt er. Er bete für seine Familie und für Geduld. Fragt man ihn, was ihm Freude bereite, sagt er: «In die Kirche zu gehen.» Carillo ist katholisch, der Glaube ist für ihn mehr als blosse Tradition. Er sei existenziell: «Gott versorgt mich, jeden Tag. Zum Beispiel mit genügend Essen, obwohl ich kaum Geld habe.»

In Buettners Untersuchungen hat sich gezeigt, dass die ältesten Menschen der Blue Zones fast alle religiösen Gemeinschaften angehörten. Er hält fest, dass spirituelle Menschen ein signifikant geringeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben, eine tiefere Depressions- und Suizidrate aufweisen und auch ihr Immunsystem besser zu funktionieren scheint. In seinem Buch schreibt Buettner: «Bis zu einem gewissen Grad ermöglicht ihnen die Religionszugehörigkeit, den Stress des Alltags einer höheren Macht zu überlassen.»

Ist Costa Ricas Blue Zone in Gefahr?

Oleli Carillo und Veronica Ruiz Castillo haben Vorfahren und Verwandte, welche die 100-Jahre-Marke geknackt haben. Und auch sie haben gute Chancen, in den Kreis der sogenannten «Centenarians» zu gelangen.

Doch die Blue Zone Costa Ricas ist fragil. Die Nicoya-Halbinsel ist nicht mehr so isoliert, wie sie es über Jahrhunderte war: die Amerikanisierung, die vielen Touristen.

Die junge Generation von Nicoya lebt anders, als es Oleli Carillo und Veronica Ruiz getan haben. Die meisten Wege legen sie mit dem Auto oder dem Motorrad zurück, essen nebst Gallo Pinto auch gerne mal Fast Food, und viele von ihnen arbeiten in der Tourismusbranche, wo eine westliche Arbeitskultur herrscht. Sie sind geprägt von Filmen und Serien, die propagieren, nach den eigenen Träumen zu streben.

«Heute dreht sich vieles um Geld. Als ich ein Kind war, gab es hier noch gar kein Geld», sagt Veronica Ruiz. Veronica Ruiz könnte mit ihren 74 Jahren zu den Letzten gehören, welche die Nicoya-Halbinsel zu einer Blue Zone machen.

Oleli Carillo wippt den Schaukelstuhl vor und zurück. Nun wird er nachdenklich. Der friedliche Ausdruck ist für einen Moment aus seinem Gesicht gewichen. «Meine Söhne sind immer hier. Aber meine Enkel kommen mich kaum noch besuchen», sagt er. Die Mentalität sei anders.

Oleli Carillo fürchtet nicht um die Blue Zone, sie hat in seinem Leben nie eine Rolle gespielt. Er sorgt sich um etwas Grösseres: dass die Kultur, die ihm so lieb ist und den Menschen hier ein sinnerfülltes Leben schenkt, langsam stirbt.

Diese Reportage wurde möglich dank der Unterstützung von Edelweiss (www.flyedelweiss.com). Die Fluggesellschaft fliegt direkt nach San José.

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