Samstag, April 19

Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu löste grossen Protest der Jungen aus. Wenden sie sich jetzt auch in seiner Heimat am Schwarzen Meer von Erdogan ab?

Für junge Leute gibt es in Rize an der türkischen Schwarzmeerküste nicht viel zu tun, und so sitzen Zehranur und ihre drei Freundinnen an einem verregneten Mittag wie so oft auf der überdachten Terrasse eines Lokals, trinken Mokka und unterhalten sich über Gott und die Welt.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Sie sind 18, 19 und 20 Jahre alt, bereiten sich auf die Aufnahme an der Universität vor – zwei wollen in den Rettungsdienst, eine an die Sporthochschule, eine interessiert sich für ein Studium der Gastronomie. Politisch sind sie uneins und doch befreundet, weil sie normalerweise nicht über Politik sprechen. Heute machen sie eine Ausnahme, denn die Türkei befindet sich in einem Ausnahmezustand.

Zu diesem Zeitpunkt sitzt der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) seit drei Wochen in Untersuchungshaft. Er ist der stärkste Rivale des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Nach seiner Verhaftung gingen Hunderttausende Menschen auf die Strasse.

Aus Rize – der Heimat von Zehranur und ihren Freundinnen – stammt auch Erdogans Familie. In der Region hat der Präsident traditionell starken Rückhalt. Nur wenn diese so wichtige Basis bröckelt, ist Erdogans Macht ernsthaft in Gefahr.

Zehranur, die ihr dunkles Haar lang und offen trägt, ist die Aufmüpfigste der Gruppe. Sich selbst bezeichnet sie als Atatürk-Nationalistin. Die derzeitigen Regierungsparteien werde sie niemals unterstützen, sagt sie. Dass so viele Menschen nun auf die Strasse gehen, kann sie gut verstehen.

«Die jungen Leute rebellieren. Jeder hat es satt», sagt sie. Selbst ein Abschluss in der Tasche sei keine Garantie für einen guten Job. «Die Nation ist in eine Sackgasse geraten.» Sie deutet mit dem Kinn auf ihre Gegenüber. Die zwei, sagt sie, würden das anders sehen.

Eine der Angesprochenen – Elif –, Jeansjacke und schwarzes Kopftuch, will das nicht auf sich sitzenlassen. «Du verstehst uns falsch», erwidert sie. «Wir sind auch nicht zufrieden mit denen an der Spitze. Wirklich nicht.»

Miray, die zu Elifs Rechter sitzt und als Einzige Tee statt Kaffee trinkt, nickt. «Dass die Menschen ihre Rechte und Freiheiten verteidigen, ist normal», sagt Miray. «Aber die Gewalt zwischen den Studenten und der Polizei wäre nicht nötig gewesen.» Die Proteste hätten den Frieden gefährdet.

Elif und Miray mögen nicht mit allem einverstanden sein, was in der Türkei passiert. Und doch setzen sie weiter auf die Regierung, weniger aus blinder Zustimmung heraus, mehr aus einem Gefühl der Alternativlosigkeit. «Niemand anderes kann dieses Land regieren», sagt Miray.

Seine Anhänger sehen Erdogan als den starken Mann, der sein Land in unsicheren Zeiten anführt und dessen Interessen in der Welt vertritt, sei es gegenüber Donald Trump oder Wladimir Putin. Seine Gegner finden, Erdogan opfere das Wohl seines Volkes für seine eigene Macht.

Es sind gegensätzliche Positionen, die Freundeskreise und Familien trennen. Aber nicht an diesem Tisch, um den Zehranur und ihre Freundinnen diskutieren. Keine der Frauen wird dabei den Namen eines Politikers in den Mund nehmen. Wenn sie kritisieren, dann tun sie dies indirekt. Dieser Tage muss man in der Türkei aufpassen, was man sagt.

In manchen Fragen sind sich die Freundinnen überraschend einig. Trotz ihren politischen Überzeugungen weiss keine von ihnen, welcher Partei sie bei der nächsten Wahl ihre Stimme geben soll. Aber aus Rize wollen die jungen Frauen so schnell wie möglich weg.

Aus dem Nordosten der Türkei, gut hundert Kilometer von der georgischen Grenze entfernt, zieht es sie in den Westen, nach Canakkale oder Istanbul. «Wir sind es leid, jeden Tag an die gleichen Orte zu gehen», sagt Zehranur. Jeder kenne jeden.

Die soziale Kontrolle ist stark, die Schwarzmeerküste konservativ. Die Menschen seien daran gewöhnt, dass Frauen ihr Haar bedeckten, sagt Elif. «Sie finden es komisch, wenn die Studenten kurze Sachen anziehen. Dabei sollte das jedem selbst überlassen sein.»

Diese Region hat auch Erdogan geprägt. Zwar ist er in Istanbul geboren und aufgewachsen, aber seine Eltern kommen aus Rize, und als Junge verbrachte der heutige Präsident viele Sommer in ihrem Dorf am Schwarzen Meer.

Grüne Teefelder überziehen die hügelige Landschaft. Viele Menschen sind stolz, dass der Präsident hier seine Wurzeln hat. Arif Berber etwa, ein Ingenieur Anfang 30, der in Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) aktiv ist. Wie viele Anhänger versteht er Kritik am Präsidenten als Angriff auf die Türkei selbst.

Auf die Proteste angesprochen, winkt er ab. Jene, die das Volk auf die Strasse brächten und provokative Aktionen durchführten, seien gegen die Türkei. «Sie lieben das Land nicht», sagt er. Diese Leute, findet Berber, würden alles und jeden wählen, um Erdogan loszuwerden – «sogar einen Mantel».

Die CHP ist keine «Partei der Ungläubigen»

Besonders der Boykottaufruf empört ihn. Die Opposition hatte dazu aufgefordert, einen Tag lang kein Geld auszugeben, um ein Zeichen gegen die Verhaftung von Studenten zu setzen. Berber findet das unpatriotisch – macht den Vorwurf aber nicht allen Oppositionsanhängern. «Ich habe viele Freunde, die CHP-Anhänger sind und sich aufrichtig einen Aufstieg der Türkei wünschen», sagt er.

Berber hat auch die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee befürwortet. Der berühmte Bau in Istanbul war einst eine byzantinische Kirche, wurde im Osmanischen Reich zur Moschee, unter Atatürk zum Museum – und wurde 2020 von Erdogan wieder zum muslimischen Gotteshaus gemacht. Ein umstrittener Schritt, der bei vielen seiner Unterstützer gut ankam. Denn bevor Erdogan 2003 an die Macht kam, fühlten sich grosse Teile der Bevölkerung – religiös, konservativ, oft aus anatolischen Regionen – politisch übergangen. Jahrzehntelang prägte eine städtische Elite mit republikanischem Selbstverständnis die Türkei. Frauen mit Kopftuch wurden von Universitäten ausgeschlossen.

Erdogan, selbst aus einfachen Verhältnissen, gab diesen Menschen Anerkennung. Er sorgte dafür, dass sie studieren und im Staatsdienst arbeiten durften. Dafür halten ihm viele bis heute die Treue – wie Berber und seine Frau. Aus ihrer Sicht hat Erdogan ihnen Freiheit gebracht. Der Opposition trauen sie nicht zu, diese zu wahren. Im Gegenteil: Sie fürchten, nach einem Machtwechsel wieder an den Rand gedrängt zu werden.

Eine knappe Autostunde entfernt, in einem Büro mit Blick aufs Schwarze Meer, schnaubt Sebahattin Bayrak, wenn er das hört. Er ist der Generalsekretär der örtlichen CHP in Trabzon, aus der der inhaftierte Bürgermeister Imamoglu stammt. Bayrak sagt, in letzter Zeit seien viele ältere Frauen mit Kopftuch seiner Partei beigetreten.

Allein das zeige, wie haltlos der Vorwurf sei, die CHP sei eine Partei der Ungläubigen. Er selbst ist seit fünfzehn Jahren in der Politik aktiv – in einer Gegend, in der seine Partei wenig Zustimmung erhält und es stets die AKP und Erdogan sind, die Wahlen gewinnen. Allerdings hat die Partei bei den letztjährigen Kommunalwahlen an Stimmen eingebüsst.

Der Oppositionspolitiker sieht das als Zeichen einer beginnenden Veränderung: Bayrak glaubt, dass die Wirtschaftskrise und der Demokratieabbau die Regierung zu Fall bringen werden. Den Protesten schreibt er dabei eine grosse Rolle zu: «Wenn diese Leute» – damit meint er die Regierenden – «auch nur ein bisschen Verstand hätten, würden sie diese Proteste nicht ignorieren. Sie werden sie früher oder später wegfegen.»

Es stimmt, der Unmut ist bis in die konservativen Hochburgen geschwappt. Selbst in Rize, Trabzon oder Yozgat protestierten Menschen auf der Strasse. Auch die Breite der Bewegung – es handelt sich um die grössten Proteste seit zwölf Jahren – lässt Erdogan angezählt wirken.

Vor allem bei der «Generation Erdogan» ist etwas ins Rutschen geraten – bei jenen jungen Leuten, die keinen anderen politischen Anführer als diesen Präsidenten kennen. Sie sind von der Politik desillusioniert. Die überwältigende Mehrheit der Demonstranten im März war laut Erhebung eines unabhängigen Instituts unter 24 Jahre alt. Zuletzt weiteten sich die Protestaktionen sogar auf Gymnasiasten aus.

Die Jugend wendet sich von Erdogan ab

Aber gilt das auch für die breite Bevölkerung? Der Meinungsforscher und Leiter des Metropoll-Umfrageinstituts Özer Sencar beobachtet, wie sich die Stimmung im Land in parteipolitische Vorlieben übersetzt. Zwar legte die Oppositionspartei CHP zuletzt zu und landet nun hauchdünn vor der Regierungspartei AKP (35 zu 34 Prozent).

Er sagt aber auch: «Anders als viele denken, hat Erdogan nicht wesentlich an Macht verloren.» Der Grund sei, dass auch dessen Partei an Zustimmung gewonnen habe. Manche Unentschlossene seien seit Beginn der Protestwelle zur AKP zurückgekehrt.

Auf lange Sicht indes haben Erdogan und seine Partei sehr wohl an Zustimmung eingebüsst, was auch die Kommunalwahlergebnisse aus dem vergangenen Jahr zeigen. Dies und die Proteste in der konservativen Herzkammer des Landes sind ein zaghaftes Zeichen für die Erosion an der Basis.

Junge Leute wie Zehranur und ihre Freundinnen hinterfragen die Werte und die Politik, mit denen sie aufgewachsen sind. Die Loyalität in Erdogans Kernland ist nicht mehr bedingungslos. Reicht das für einen Umbruch, der die Kräfteverhältnisse im Land dauerhaft verschiebt?

Wohl noch nicht, wie die Umfragen zeigen. Die Demonstrationen, so scheint es, haben die beiden Lager eher gefestigt als aufgebrochen. Doch der Frust in seiner Klientel, besonders bei der Jugend, ist für Erdogan ein Warnsignal. Ignoriert er es, könnte seine Macht ins Wanken geraten.

Exit mobile version