Samstag, November 23

Wer heute Musik schreibt, sieht sich mit einer Übermacht der musikalischen Vergangenheit konfrontiert. Beim Concours de Genève hört man vielfältige Lösungsansätze für diese Herausforderung.

Ein Rest von Magie bleibt. Auch dann, wenn jede Harmonie analysiert und jede Wendung durchleuchtet ist. Es geht um jenen Moment, in dem aus schwarzen Punkten auf weissem Papier Musik wird und die erdachte Schöpfung eines Komponisten tatsächlich erklingt, also akustisch erfahrbar wird. Was es mit dieser Magie auf sich hat, liess sich jetzt in Genf erahnen, wo sich der Concours de Genève alle zwei Jahre dem Bereich Komposition widmet.

In diesem Jahr wurden gleich zwei Komponisten mit dem 1. Preis ausgezeichnet, deren Werke unterschiedlicher kaum sein könnten. Und doch verbindet Léo Albisetti und Caio de Azevedo das Ringen darum, was Komposition heute sein kann und sein soll: Wie sehr spiegelt sich die Welt in der Musik? Und welche Aufgabe haben sie eigentlich als Komponisten der Gegenwart?

Im Bann der Vergangenheit

Die Vorgaben des Wettbewerbs waren klar: Ein Werk für Bratsche und Kammerorchester sollte entstehen, von etwa 15 Minuten Dauer und spielbar für junge Profis. 82 Stücke aus 28 Ländern wurden in diesem Jahr eingereicht, komponiert von Musikerinnen und Musikern im Alter zwischen 15 und 40 Jahren. Sie wurden anonymisiert von der Jury gesichtet, drei davon haben es schliesslich ins Finale geschafft. «Wir suchen interessante Musik, die etwas Neues in die Kunst bringt und eine Relevanz hat», sagt Pascal Dusapin, der Vorsitzende der Jury und selbst ein bekannter Komponist.

Neu heisse nicht automatisch: radikal. Im Gegenteil: Werde Musik nur der Provokation wegen komponiert, sei das schnell langweilig. Dass neue Musik gleichwohl oft als schwer hörbar gelte, habe einen anderen Grund. «Man liebt nur das, was man erkennt, was einem vertraut ist und in einem widerhallen kann», sagt Dusapin. Um neue Musik lieben zu lernen, brauche es schlicht Zeit und Hörgewohnheit.

Am Abend nach der Preisverleihung sitzt Dusapin in einem Probenraum über der Victoria Hall in Genf und sinniert über das Komponieren in der heutigen Zeit. Noch nie, sagt Dusapin, habe man sich die Werke der Vergangenheit derart problemlos in die Gegenwart holen können wie heute: über die digitalen Wege. Das unterscheide die Arbeitswelt moderner Komponisten stark von jener eines Beethoven oder Mendelsohn. Für Dusapin geht damit eine grosse Verantwortung einher. «Als Komponist bin ich immer verbunden mit der Vergangenheit, und dessen muss ich mir sehr bewusst sein.»

Die Preisträger des Wettbewerbs in Genf macht das Wissen um den Schatz der Jahrhunderte ebenso demütig wie neugierig – gleichwohl wollen sich beide nicht von der Übermacht der Vergangenheit erdrücken lassen, sie suchen selbstbewusst nach ihrer eigenen schöpferischen Stimme inmitten dieser polyfonen Welt. Wie diese klingen kann, ist kurz zuvor in der Victoria Hall zu erleben.

Emotionen und Lebensthemen

Da ist Léo Albisettis Werk «Nouvel Élan»: ein fast klassisch anmutendes Bratschenkonzert, das eine vielgestaltige Klanglandschaft zum Leben erweckt. Das Kammerorchester wird hier in all seinen Farbtönen ausgeschöpft und untermalt mal sphärisch, mal kantig und schroff die elegischen Linien in der Solobratsche. Ein grosser Wurf. Auch das Stück «The past recaptured» des 24 Jahre alten Koreaners Sang Min Ryu, das am Ende mit dem 3. Preis ausgezeichnet wird, ist ein handwerklich sauber gearbeitetes Werk. Doch im Vergleich zu den beiden Siegern wirkt es weniger originell und schlüssig.

Und schliesslich ist da das Stück «Marionnette» von Caio de Azevedo: ein faszinierendes Klangexperiment, das hochkomplex in den Bann zieht. Inspiriert von der Idee eines Puppentheaters, hatte sich Azevedo zum Ziel gesetzt, «meine eigenen Erwartungen» an das Thema «zu überwinden» – und er stellt auch jene des Publikums auf den Kopf. Satter Orchestersound und sonor warmer Bratschenton sind kaum zu hören, stattdessen verwandelt sich das Ensemble mit viel Pizzicato und Percussion, hingeworfenen Melodiefetzen und suchenden Phrasen in einen brüchigen, durchscheinenden Klangkörper. Der Solist scheint gefangen und verstrickt in dem Klanggeflecht, und feine musikalische Fäden lenken seinen solistischen Part. Man sieht die Marionetten förmlich tanzen, ahnt die eckigen Bewegungen ihrer Gliedmassen und das Klackern der hölzernen Füsse auf den Boden.

78th Concours de Genève: "Marionnette" | by Caio de Azevedo, 1st Prize ex aequo 2024

«Ich wollte einen besonderen Klang schaffen, nicht breit und dick, sondern fragil sollte er sein. So momenthaft und fragmentarisch, wie wenn ein Marionettenspieler auf der Strasse seinen Koffer öffnen würde und für die Passanten ein Puppentheater spielen», so beschreibt Caio de Azevedo den Anspruch an sein Werk. Das Komponieren selbst empfindet der 30 Jahre alte Brasilianer als «eigenartiges Handwerk». «Da sitzt man am Tisch und schreibt Noten, und zwei Jahre später erklingt dann die Musik.» Deshalb schreibe er, strenggenommen, nicht für die Ohren von heute. Doch sosehr Azevedo nach weiteren Ausdrucksmöglichkeiten sucht – er weiss: «Ganz neu wird die Musik nie sein, denn sie ist immer von Menschen gemacht mit all ihren Emotionen und Lebensthemen. Als Komponist höre ich der Welt zu und höre gleichzeitig in mich selbst hinein», sagt Azevedo.

Echte Klänge

Auch Léo Albisetti lauscht gebannt dem Klang der Welt und sucht in seiner Musik nach Antworten darauf. «Wenn ich am Beginn einer Komposition stehe, habe ich meistens zwei Dinge im Kopf: Die grosse Architektur des Werks, die noch wie durch Nebel hindurch erscheint. Und ein kleines, sehr präzises Detail.» Diese beiden Dinge versuche er zu verbinden. Bei seinem Wettbewerbsbeitrag wollte er verschiedene Gefühlszustände in Musik ausdrücken und sie miteinander verschmelzen. Über ein halbes Jahr hat er daran gearbeitet.

Für den 26 Jahre alten Schweizer ist die Musik selbst das Faszinosum. «Das Komponieren ist mein Versuch, zu verstehen, wie Musik funktioniert und Klänge wirken», sagt Albisetti. Die ganze Zeit über sei er damit beschäftigt, herauszufinden, «was ich liebe und wie ich das schreibe». Die eigene Sprache zu finden, sei «wahnsinnig schwer». Bei all den Selbstzweifeln ist der Preis für ihn nun eine grosse Bestätigung. Das grösste Glück aber hat Léo Albisetti in den Tagen vor dem Finale erfahren, als er mit dem Orchester an seinem Stück gearbeitet hat: «Während dieser Zeit habe ich erlebt, wie die Musik, die ich erdacht hatte, von den Musikern verinnerlicht wurde und sich zu echten Klängen geformt hat.» Berührend sei das gewesen, einfach magisch.

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