Samstag, Dezember 28

In kaum einem anderen Land gehen die Beschäftigten so früh in Rente wie in China. Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist deshalb laut Experten fällig, birgt aber auch Risiken.

Wenn die Volksrepublik zum 1. Januar 2025 in einer ersten Stufe das Renteneintrittsalter anhebt, mag das für Länder wie die Schweiz oder Deutschland, in denen bis zum 65. oder 67. Geburtstag gearbeitet wird, eine Lappalie sein. Für die chinesische Gesellschaft ist die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters aber eine Art Minirevolution.

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Für Arbeiterinnen steigt das Rentenalter von 50 auf 55 Jahre, für weibliche Angestellte von 55 auf 58 Jahre. Männer müssen dann nicht mehr nur bis 60, sondern bis 63 Jahre arbeiten.

Damit wird die grösste Reform der Altersgrenze im chinesischen Rentensystem seit Ende der siebziger Jahre umgesetzt. Chinas Ministerpräsident Li Qiang hatte die Reform vor einigen Monaten als «bedeutenden Schritt» bezeichnet – und damit wohl untertrieben. Ökonomen fordern seit Jahren eine Anpassung. Derzeit ist das Renteneintrittsalter in China eines der niedrigsten der Welt.

Der 1. Januar ist allerdings erst der Anfang der Reform. In den nächsten 15 Jahren soll die Anhebung schrittweise umgesetzt werden.

China reagiert damit auf die demografischen Herausforderungen der nach Indien zweitgrössten Bevölkerung der Welt. Die Gesellschaft altert rapide, gleichzeitig schrumpft das Budget, aus dem die Renten gezahlt werden. Chinas staatliche Akademie der Sozialwissenschaften hatte bereits vor sechs Jahren prognostiziert, dass dem wichtigsten staatlichen Rentenfonds bis 2035 das Geld ausgehen werde – und das war eine Schätzung vor der Corona-Pandemie, die Chinas Arbeitsmarkt und die gesamte Wirtschaft hart getroffen hat.

300 Millionen neue Rentner in den nächsten zehn Jahren

Für die chinesische Gesellschaft ist die Reform zugleich ein Weckruf. 2023 schrumpfte Chinas Bevölkerung zum zweiten Mal in Folge. Die jahrzehntelange Ein-Kind-Politik hatte zur Bevölkerungsstagnation beigetragen. Doch auch nach der Abschaffung der rigiden Regelung vor rund zehn Jahren bekommen die Chinesen nicht mehr Kinder: 2023 wurden nur noch 9,02 Millionen Babys geboren, nach 9,56 Millionen im Vorjahr.

Junge Paare warten lange mit dem Nachwuchs. Der Karrieredruck, drohende Arbeitslosigkeit und die hohen Kosten für die Erziehung wirken als Hemmschuh für die Familienplanung.

Gleichzeitig steigt der Wohlstand und damit auch die Lebenserwartung. Im Durchschnitt werden heute geborene Chinesen ein Alter von 78,2 Jahren erreichen. Ein weiteres Problem: China will seinen Bevölkerungsschwund und die Alterung auch weiterhin nicht durch Zuwanderung abmildern. Das Thema Migration spielt keine Rolle im politischen Diskurs, der Anteil von Ausländern liegt bei unter einer Million Menschen. Bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden ist das kaum der Rede wert.

Noch hat China mit einer Akademikerschwemme zu tun, in Zukunft droht jedoch Fachkräftemangel. Der Politik bleiben folglich Reformen der Sozialsysteme – und staatliche Kampagnen, die das Heiraten erleichtern und das Kinderkriegen wieder attraktiver machen sollen. Wegen der hohen Mieten gilt der Besitz einer Wohnung – möglichst in teurer, zentrumsnaher Lage – als hilfreiches Argument bei der Partnersuche.

Die Demografie ist nach Ansicht von Experten eines der grössten Risiken für Chinas Entwicklung. Laut der Weltgesundheitsorganisation wird 2040 fast ein Drittel der chinesischen Bevölkerung – das sind rund 402 Millionen Menschen – über 60 Jahre alt sein, 2019 waren es 254 Millionen. 300 Millionen Chinesen, die heute zwischen 50 und 60 Jahre alt sind, werden in den nächsten zehn Jahren in Rente gehen.

Rentenreform in China: politisch ein heikler Schritt

Aber wer wird für sie zahlen, wenn immer mehr junge Leute die Älteren finanzieren müssen? Experten halten die Rentenreform deshalb für eine wirtschaftliche Notwendigkeit. «Die Reformen sind überfällig», sagte Erica Tay, Ökonomin bei der Investmentbank Maybank, dem amerikanischen Fernsehsender CNBC.

Politisch ist der Schritt gleichwohl ein Wagnis. Die Arbeitnehmer sollen längerfristig mehr in die Sozialversicherung einzahlen, um eine Rente zu erhalten. Später müssen 20 Beitragsjahre statt 15 nachgewiesen werden.

Allerdings wirft das die Frage auf, ob ein Teil der Chinesen überhaupt so lange einzahlen kann, zum Beispiel weil zunehmend mehr Menschen als Freelancer arbeiten. Die Verlängerung der Beitragszeit «könnte es für viele Arbeitnehmer schwieriger machen, eine Rente zu bekommen», sagte Stuart Gietel-Basten, Professor an der Hong Kong University of Science and Technology, der Nachrichtenagentur Reuters.

Dabei sind die Renten vieler Chinesen ohnehin nicht üppig, gerade angesichts der hohen Mieten. Die monatlichen Renten in den Städten reichen von rund 3000 Yuan (umgerechnet 370 Franken) in weniger entwickelten Provinzen bis zu rund 6000 Yuan in Metropolen wie Peking oder Schanghai. Viele Ältere müssen weit über das Rentenalter hinaus arbeiten, um ihr Einkommen aufzubessern – zum Teil auch in körperlich anstrengenden Berufen auf dem Bau oder in der Gastronomie. Staatliche Jobs sind sicherer, aber oft schlechter bezahlt.

Kurze Ferien, hohe Arbeitsbelastung

Fünf bis zehn frei wählbare Ferientage hat ein Arbeitnehmer im Jahr. Berufsanfänger haben oft nur Anspruch auf fünf Ferientage im Jahr, erst ab zehn Jahren Betriebszugehörigkeit steigt der Ferienanspruch auf zehn Tage. Wochenendarbeit und zum Teil unbezahlte Überstunden werden in vielen Betrieben erwartet. Zudem ist die Arbeitsbelastung für viele Chinesinnen und Chinesen sehr hoch.

Eine Arbeitszeitverlängerung geht vielen angesichts dieser Umstände gegen den Strich. In den sozialen Netzwerken machen Nutzer ihrem Unmut Luft: «Studenten, die keinen Job finden, 35-Jährige, die wegen ‹Optimierung› entlassen werden, und ältere Menschen, deren Rente verzögert wird . . . Weiss auch nicht, was ich noch sagen soll», schreibt ein User auf Chinas reichweitenstarker Plattform Weibo. Wie immer ist es schwierig, einzuordnen, wie viele Menschen in China so denken.

Exit mobile version