In der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen prüften Basler Pharmaunternehmen während Jahrzehnten Substanzen an unwissenden Patientinnen und Patienten. Nun hat der Regierungsrat des Kantons Thurgau ein Gesetz zur Entschädigung der Opfer verabschiedet.
Roland Kuhn ist eine der schillerndsten Figuren der Schweizer Psychiatriegeschichte. Der 2005 verstorbene Berner war zuerst Oberarzt und dann Direktor der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen im Thurgau. Er entdeckte das erste wirksame Medikament gegen Depressionen – das Antidepressivum Imipramin – und galt als Koryphäe seines Fachs, geehrt mit mehreren Ehrendoktortiteln renommierter Universitäten.
Doch seit einigen Jahren ist Kuhns wissenschaftliche Leistung in Verruf geraten: seit bekanntwurde, dass er im grossen Stil und im Sold der Basler Pharmaindustrie seinen Patientinnen und Patienten neue, nichtzugelassene Substanzen verabreicht hatte. Ein «eigentliches Versuchsfieber» attestierte ihm ein Forschungsteam in der 2019 erschienenen Studie «Testfall Münsterlingen», in der die Vorgänge in der idyllisch am Bodensee gelegenen Klinik historisch aufgearbeitet wurde – im Auftrag der Thurgauer Regierung.
«Nie um Einwilligung gefragt»
Tatsächlich ist das Ausmass der von Kuhn verabreichten Testpillen, unter ihnen viele Psychopharmaka, schier unglaublich: Zwischen 1940 und 1980 sollen mindestens drei Millionen Einzeldosen gratis von Basel nach Münsterlingen geliefert worden sein. Für 67 Prüfsubstanzen liegen klare Belege vor, von einer beträchtlichen Dunkelziffer wird indes ausgegangen. 1112 Patientinnen und Patienten konnte das Forschungsteam identifizieren, auch dies eine Mindestzahl: In den Berichten von Psychiater Kuhn sind 2789 Fälle verzeichnet. 36 Personen starben während oder kurz nach der Verabreichung von nichtzugelassenen Medikamenten. Fakt ist aber auch, dass einige der Substanzen nach den Tests zugelassen und zu Verkaufsschlagern wurden.
Kuhn selbst, der sein Handeln in seinem Nachlass genau dokumentierte, um der Nachwelt seine Pionierhaftigkeit zu beweisen, schrieb freimütig: Man habe Patienten «nie um ihre Einwilligung gefragt». Er äusserte gegenüber den Pharmafirmen sogar den Wunsch, dass neu zu prüfende Präparate farblich gleich zu gestalten seien wie bereits zugelassene, «so dass die Patienten gar nicht merken, wenn sie ein anderes Medikament bekommen». Erst 1987 begann Münsterlingen, für klinische Versuche schriftliche Einverständniserklärungen einzuholen, obwohl international mit der Deklaration von Helsinki von 1964 die ethischen Anforderungen geregelt worden waren.
Der Kanton Thurgau, dessen Behörden von den Medikamentenverabreichungen gewusst hatten, ist mit der Aufarbeitung des Falls Münsterlingen vorbildhaft umgegangen: Nach Berichten in den Medien hat sie die obgenannte Studie in Auftrag gegeben. Der Regierungsrat entschuldigte sich vor einigen Jahren bei den einstigen Patientinnen und Patienten: «Sehr betroffen macht, dass auch besonders vulnerable Patientengruppen wie Kinder, Jugendliche und Schwerst- und Chronischkranke in die Tests mit einbezogen wurden.» Ein Denkmal als «Zeichen der Erinnerung» wurde in Münsterlingen errichtet.
Moralische Mitverantwortung
Und nun ist auch die Frage der finanziellen Entschädigung geklärt: Aufgrund der parlamentarischen Motion «Es bleibt keine Zeit – Finanzielle Wiedergutmachung für betroffene Menschen von Medikamententests in der psychiatrischen Klinik» hat die Thurgauer Regierung am Freitag ein Gesetz verabschiedet. Es wird auf Anfang 2025 in Kraft gesetzt, sofern das Kantonsparlament zustimmt.
In «Anerkennung des erlittenen Leids» sollen betroffene Personen auf Gesuch hin je einen «Solidaritätsbeitrag» von 25 000 Franken erhalten. Anspruch besteht, wenn die Verabreichung «mindestens einer Prüfsubstanz» aktenkundig ist. Das Staatsarchiv Thurgau ist für die Behandlung der Gesuche zuständig, die bis Ende 2028 eingereicht werden können. Der Kanton geht von rund 500 Anspruchsberechtigten aus, was Kosten in der Höhe von 12,5 Millionen Franken zur Folge hätte. In der Botschaft zum Gesetz heisst es: «Da die Pharmaindustrie aus heutiger Sicht eine gewisse moralische Mitverantwortung trägt, erwartet der Kanton Thurgau eine massgebliche Beteiligung an den Kosten.» Diese wird sich mit vier Millionen Franken beteiligen, wie ebenfalls am Freitag publik geworden ist.
Novartis, die aus früheren Unternehmen wie Geigy, Ciba und Sandoz hervorging, teilt mit: «Angesichts des aussergewöhnlichen und sehr gut dokumentierten Falles der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen haben wir beschlossen, uns freiwillig und ausnahmsweise am Solidaritätsbeitrag zu beteiligen.» Der Pharmakonzern betont in seiner Stellungnahme aber auch, «dass die Zusammenarbeit unserer Vorgängerunternehmen mit Professor Kuhn zu wichtigen Erkenntnissen führte, die wesentlich zur Entwicklung neuer Therapien beigetragen haben und für die zukünftige Behandlung von Patientinnen und Patienten ausserordentlich wertvoll waren».