Mittwoch, April 23

Ein Brotaufstrich, so ungesund, er dürfte heute nie erfunden werden: Nutella wird 60.

Nutella ist alles andere als ein Diätmaterial. Es ist, genaugenommen, eine Zucker-Fett-Paste, vermengt mit ein paar Haselnüssen, Milchpulver und Kakao. Ernährungsexperten können darum gar nicht genug vor Nutella warnen: Jede Menge Palmöl hat’s da drin, und dann noch der ganze Zucker! Wer sich morgens zwei Scheiben Brot mit Nutella streicht, hat dessen empfohlene Tagesmenge schon nach dem Frühstück locker überschritten.

Trotz alldem ist Nutella ein Erfolg. Vor 60 Jahren lief das erste Glas über das Band, heute ist der rot-weiss-schwarze Schriftzug in den entlegensten Supermärkten der Welt zu sehen. Nutella ist das, was im Marketing ein «love brand» genannt wird: eine Marke, die Konsumentinnen und Konsumenten derart mögen, ja lieben, dass sie negative Meldungen über sie grosszügig ignorieren.

«Nutella profitiert von einem hohen Bekanntheitsgrad», sagt der bekannte Schweizer Werber Frank Bodin. Dabei sei das Produkt an sich aus der Zeit gefallen. «Als Vater stelle ich meinen Kindern diesen Zuckertopf sicher nicht auf den Tisch.»

Von der «Supercrema» zum Nüsschen

Die Geschichte von Nutella beginnt im mausarmen Italien der Nachkriegszeit. Pietro Ferrero, ein Konditor aus Alba in Piemont, war auf der Suche nach einem schokoladeähnlichen Snack, den er in seinem Laden verkaufen konnte. Doch Kakaopulver war rationiert, dafür gab es jede Menge Haselnüsse. Also nahm Ferrero die Nüsse, mischte ihnen Melasse und ein wenig vom teuren Kakao bei und verkaufte das Ganze als Gianduja-Paste: gut im Geschmack, aber ein unhandlicher Brocken.

Pietros Sohn Michele hatte dann die Idee, aus Vaters Paste eine Crème zu machen. «Supercrema» entstand im Jahr 1951, fünf Jahre später expandierte Michele Ferrero nach Deutschland. Im hessischen Stadtallendorf bei Marburg eröffnete er ein zweites Werk. Der grosse Durchbruch aber sollte erst kommen: Als im Jahr 1962 ein Gesetz in Italien es verbot, das Wort «Super» in Markennamen zu verwenden, musste ein neuer Namen für den Aufstrich her. Er sei ihm auf einem Spaziergang eingefallen, erzählte Michele Ferrero später: «Nutella» war eine Wortkreation aus dem englischen «nut» für Nuss und der italienischen Verkleinerungsform «-ella». Am 20. April 1964 produzierte Ferrero das erste Glas unter dem neuen Namen.

Heute ist Ferrero der zweitgrösste Süsswarenproduzent der Welt mit einem Jahresumsatz von mehr als 17 Milliarden Euro. Das nicht börsenkotierte Unternehmen ist an 37 Standorten rund um den Globus tätig, über Produktion und Gewinn hüllt es sich in Schweigen. Nur so viel: Die Ferreros sind seit Jahren die reichsten Italiener, nach Pietro und Michele führt Giovanni die Firma in dritter Generation. Zum Konzern gehören Marken wie Mon Chéri, Tic Tac und Kinder-Schokolade. Das wichtigste Produkt aber bleibt Nutella.

Als Aufstrich, als Keks, als Riegel, als Pizza mit etwas Puderzucker darüber: Nutella gibt es in seinen verschiedenen Varianten in 160 Ländern zu kaufen. Es nimmt ein eigenes Kapitel in der italienischen Wirtschaftsgeschichte ein – und liefert immer wieder Stoff für politische Scherereien.

Der Nutella-Graben und das Palmöl-Problem

Im Jahr 2012 reichten Konsumentenschützer in den USA eine Klage ein, nachdem eine Mutter Ferrero vorgeworfen hatte, Nutella falsch zu bewerben. Der Aufstrich sei nicht wie in der Fernsehwerbung behauptet «Teil eines nahrhaften Frühstücks», sondern in Wahrheit ungesund. Ferrero unterlag vor Gericht und musste 3 Millionen Dollar Entschädigung zahlen.

Fünf Jahre später beugten sich die Staats- und Regierungschefs der EU über den «Nutella-Graben». Anlass war eine Studie zur Lebensmittelqualität, wonach in Osteuropa Markenprodukte verkauft werden, die schlechtere Rohstoffe und mehr Geschmacksverstärker enthalten als ihre Pendants im Westen. Die Empörung war riesig, die Länder im Osten sahen sich als «Mülltonne Europas». Erst als eine zweite Studie nachweisen konnte, dass Nutella in allen EU-Ländern aus denselben Zutaten besteht, kehrte Ruhe ein.

Die grösste Kontroverse aber steckt im Glas selbst: Nutella besteht zu einem Fünftel aus Palmöl, einem ebenso verbreiteten wie problematischen Rohstoff. Für dessen Produktion werden oft Unmengen von Regenwald gerodet, Tierarten vertrieben und Treibhausgase freigesetzt. Palmöl kann ausserdem Krebs erregen, wenn es bei hohen Temperaturen verarbeitet wird, wie die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit mitteilte.

Nach vielen Jahren der Kritik betont Ferrero heute, nur noch Palmöl aus nachhaltiger Produktion zu verwenden. Doch Umweltschützer haben schon das nächste Problem entdeckt: Durch die Haselstrauch-Plantagen verödeten in Italien ganze Landstriche, sagen sie. Laut Schätzungen wird ein Viertel aller Haselnüsse weltweit für Nutella verwendet.

Wider den Zeitgeist

Die Nuss ist denn auch das Gesündeste an dem Aufstrich. In einem 400-Gramm-Glas stecken: 80 Gramm Palmöl, 50 Gramm Haselnüsse, Magermilchpulver, Kakao und 56 Stück Würfelzucker à 4 Gramm. Nutella ist stark verarbeitet, bei gängigen Lebensmittel-Scores fällt es zuverlässig in die schlechteste Kategorie. Nutella ist so ungesund, es dürfte heute nie erfunden werden.

Ferrero weiss das natürlich. Und inszeniert den Aufstrich doch konsequent anders. Legendär sind die Werbespots aus den 2000er Jahren mit der deutschen Fussball-Nationalmannschaft. Darin sind die Profisportler zu sehen, wie sie morgens ein Nutella-Brot verdrücken und dann auf dem Platz richtig abliefern. Der Sport als Marketingvehikel funktioniert auch heute noch: Für die Europameisterschaft im Sommer verteilt Ferrero bereits fleissig Sammelhefte mit dem Nutella-Logo.

Derweil zeigen die Spots am Fernsehen glückliche Menschen an Frühstückstischen, die Früchte und frisches Brot mit Nutella essen. Der Slogan dazu: «Beginn den Tag mit einem Lächeln.» Der Werber Frank Bodin findet das ziemlich angestrengt. Er sagt: «Wahrscheinlich hat Ferrero lange nach einem Grund gesucht, der die Existenz von Nutella in der heutigen Zeit rechtfertigt. Werbung soll schliesslich etwas Gutes konstruieren. Aber Menschen zum Lächeln zu bringen, das passt eher zu einer Zahnpasta.»

Nutella ist süss und fettig – alles, was der Zeitgeist nicht goutiert. Zucker ist heute etwa so verpönt wie Zigaretten; Politiker in der Schweiz und in Deutschland wollen Werbungen für Süssigkeiten verbieten, um ihre Bürger vor Fettleibigkeit zu schützen. Bodin sagt: «Ferrero wird sich überlegen müssen, wie es seine Marken gesünder machen kann. Werbung alleine kann das nicht richten.»

Man kann also Werbeverbote fordern oder eine Zuckersteuer einführen. Oder man hält es mit der deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock. Auf die Frage, wie sie ihr Nutella-Brot am liebsten habe, sagte sie einst: «Wenn Nutella, dann natürlich mit Butter – richtig ungesund.»

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