Dienstag, November 12

Die Amerikaner haben genug von der Moral der Demokraten. Die täglichen Ausgaben interessieren sie dringender als die woken Ideologien.

Der Unterschied: Am Tag nach der Trump-Wahl schoss der Aktienindex Dow Jones um 3,5 Prozent hoch, auf den höchsten Stand aller Zeiten. Der DAX fiel um 1,3 Prozent. Zukunftsfreude dort, Panik hier. Schlimmer. Ein Münchner Boulevardblatt titelt: «Der Hass hat gewonnen.» Es folgte eine Litanei, die in gezügelter Form auch Gebildeten vertraut ist. Die Wähler hätten ein «rassistisches» Regime gekürt, angeführt von einem «primitiven, lügenden und verurteilten Sexualstraftäter», der sich als «Messias» ausgebe. Dieses Amerika sei ein «Sumpf», wo man Leute abknallen könne, «wenn sie anderer Meinung» seien. Fazit: «Europa muss Abschied nehmen von den USA als Weltpolizisten.»

Optimismus dort, Trübsal und Gegen-Hass hier – ein altes Muster. So sind die Amis, so sind wir. Die haben bloss eine «Zivilisation», wir aber eine «Kultur». Die jagen Mammon und Macht nach, wir sind aufgeklärt, weise und vernünftig. Nun darf man Trump in der Tat als bizarren, böswilligen und machtgierigen Ausreisser sehen, einen Typ, den es vor ihm in der Präsidenten-Geschichte seit 1788 nie gegeben hat. Es leuchten Washington, Jefferson, Lincoln, Wilson, Roosevelt, Kennedy; das Schlimmste, was man vielen anderen nachsagen kann, ist nicht Gemeinheit, sondern Bedeutungslosigkeit.

Trump ist gewiss ein Monstrum, das man in diesem Reigen kein zweites Mal findet. Wieso hat er dann eine so klare Mehrheit gewonnen? Wenn er ein Rassist ist, warum ist eine knappe Hälfte der Latino-Männer zu ihm übergelaufen, dazu ein Viertel der schwarzen Männer? Einst votierten Juden bis zu 90 Prozent für die Demokraten, diesmal waren es nur 70 Prozent. Wenn der Demagoge ein Macho ist, warum hat er eine knappe Mehrheit der Frauen kassiert? Er konnte sogar fast die Hälfte der Jungen einfangen. Alles faschistoide Wähler? Nein, sondern das klassische Machtfundament der Demokraten, das nun zerbröselt ist.

Die Gründe? Wirtschaft, illegale Migranten und «Wokeness». Der amerikanischen Ökonomie geht es inzwischen wieder blendend – Inflation runter, Wachstum hoch. Aber die Leute lesen nicht die Statistiken, sondern die Rechnungen für Lebensmittel, Benzin, Autos und Wohnraum. Sie erinnern sich an die Quasi-Öffnung der Grenze zu Mexiko unter Biden, die Abermillionen ins Land gebracht hat. Gerade die klassische Klientel der Demokraten leidet nach «Defund the Police» – nehmt der Polizei das Geld weg – am Kriminalitätsschub in den Ghettos der Grossstädte. Die Villenviertel blieben unangetastet.

Vom Klassen- zum Kulturkampf, wo die angeblich Unbelehrbaren das enger werdende Halsband der neuen Ideologie spürten. Die Leine befand sich in den Händen jener Hochgestellten, welche die Kulturhegemonie erobert hatten. In den postkolonialen Universitäten erfunden und von den vorherrschenden Medien verbreitet, geriet das postmoderne Credo zum Dogma der Staatsmacht, die den korrekten Glauben durchsetzte.

Nur so, wie wir es vorschreiben, dürft ihr reden. Gendern. Indoktrination. Canceln, LGBTQ, Trans-Propaganda in den Schulen, eine soziale Gerechtigkeit, die alle möglichen Gruppen bediente, nicht aber die kleinen Leute. Unvergessen bleibt Hillary Clinton, welche Trumps Anhänger «erbärmlich» genannt hatte. Und Barack Obama, der ihnen vorgeworfen hatte, «sich an ihre Waffen und ihre (christliche) Religion zu klammern».

Den Kulturkampf haben die Wohlmeinenden am 5. November vorerst verloren, und Kamala Harris war nicht Frau genug, um ihre Partei in die Mitte zu bugsieren. Wer es gern historisch hat: Die sozialdemokratische Roosevelt-Koalition, die sich in den 1930er und 1940er Jahren formierte und seitdem den Ton angab, hat an diesem Wahltag ein spätes Waterloo erlebt. Der Schlachtruf der Pro-Trump-Mehrheit lautete: «We can’t take it anymore» – wir haben die Schnauze voll! Zu dumm, dass sie die Mehrheit waren.

Die Demokratische Partei der Kamala Harris hätte die Verschiebung der tektonischen Platten lange vor dem Wahltag erkennen müssen. Innerhalb der Partei regen sich bereits die Schuldzuweisungen für die Fahnenflucht der einst treuesten Wähler.

Was geht das uns Europäer an?

Erstens: Alles, was in Amerika zusammengerührt wird, kommt etwas abgekühlt auf den europäischen Tisch. Nicht nur die Pop-Kultur – Rock, Hamburger, Sneakers, Hoodies, Hollywood, Slang – «Hi» statt «Grüss Gott», «Mom» statt «Mutter», «High Five» statt «Haben wir toll gemacht!». Inzwischen importieren wir auch Hochkultur und ahmen das Universitätsmodell nach (B. A., M. A.). Früher war’s umgekehrt: Da kopierten Harvard, Stanford oder Johns Hopkins das deutsche System von «Lehre aus Forschung».

Zweitens: Die linken Parteien haben auch in Europa ihre klassische Klientel vernachlässigt: Arbeiterschaft, Kleinbürger, die «Abgehängten» (Hillary Clinton). Die Folge: 1912 war die SPD die stärkste Fraktion im Reichstag, heute kommt sie auf jämmerliche 15 Prozent in den Umfragen.

Drittens: Die «Konterrevolution» hat längst begonnen. Siehe den Aufstieg der rechten Parteien von Portugal bis Polen, von Österreich bis Ungarn, von Italien über Deutschland bis Schweden. Warum, das zeigt am besten der Verfall der deutschen Sozialdemokraten, einer einst stolzen Mehrheitspartei. Das Menetekel entfaltete sich ausgerechnet am Tag nach den amerikanischen Wahlen, als die SPD-geführte «Ampel» kollabierte – in der mächtigsten Wirtschaftsnation der EU. Hier holen die radikale Rechte und die radikale Linke ein Viertel der Wähler ab.

Warum es in Europa nicht so schlimm wie in Amerika abläuft? Hier herrscht das Verhältniswahlrecht, welches viele Parteien ins Parlament spült, die einander zu Kompromissen zwingen. In amerikanischen Mehrheitssystemen galt wie am 5. November «winner takes all». Trump hat das Weisse Haus erobert, den Senat und (wohl) auch das Repräsentantenhaus. Das Oberste Gericht wird von konservativen Richtern dominiert.

Darüber müssen sich die Europäer – und Amerikaner – am meisten grämen. Solche Machtanhäufung ist rar in der US-Geschichte, und das ist gut so, weil sonst die geheiligte Gewaltenteilung nicht funktioniert. Mindestens bis zu den Kongresswahlen 2026 hat Trump freie Hand. Inzwischen kann er an die 3000 Regierungsämter besetzen. Die Gegengewichte fehlen. Und wenn man glaubt, dass er durchsetzt, was seine extreme Rhetorik verheisst, müssen sich sein Land und der Rest der Welt tatsächlich fürchten.

Vor allem Europa. Krass gesprochen, ist Europa Trittbrettfahrer der Sicherheit made in USA. Noch krasser: Ohne Big Brother können sich die Verbündeten, auch in Fernost, nicht selber gegen Russland und China verteidigen. Der Weltpolizist ist unabdingbar. Nun ist, wenn man Donald den Schrecklichen für bare Münze nimmt, die alte Ordnung unter dem Hammer.

Trumps Rhetorik vor dem Wahltag ist so anheimelnd wie das Gebrüll eines ausgehungerten Tigers. Zitat: «In vielen Fällen sind unsere Verbündeten schlimmer als unsere sogenannten Feinde.» Immer wieder hat er gedroht, jene Nato-Mitglieder «unter keinen Umständen vor Russland zu schützen, die ihren Beitrag für die gemeinsame Sicherheit verweigern. In seiner ersten Amtszeit hat er die Nato «obsolet» genannt, 10 000 Soldaten aus Europa abgezogen. Er hat mit Putin, Xi und dem Nordkoreaner Kim geflirtet. Putin darf sich darauf freuen, dass Trump den russischen Vormarsch hinnehmen wird und Kiew zum Waffenstillstand zwingt, der Moskaus Eroberungen festschreibt.

Er hat bramarbasiert, dass er alsgleich «alle Kriege beenden» werde, viel Glück, lieber Wolodimir Selenski. Er hat Benjamin Netanyahu geraten, das «Gaza-Problem» zu lösen. Wie, per Totalvernichtung der Hamas? Gleichzeitig: Ihr müsst aufhören, «die Leute umzubringen». Der Krieg gegen den Hizbullah in Libanon «muss so oder so» beendet werden. Was heisst das? Freie Hand oder aufhören?

Trump politisiert mit Drohungen

Ob in Bezug auf Europa oder Nahost – derlei Sprüche enthüllen das Trumpsche Urprinzip: Unberechenbarkeit als oberste Maxime der Aussenpolitik und die anderen aus dem Tritt bringen, sie im Dunkeln lassen. Ähnlich in der Handelspolitik, wo Trump Zölle von 20 bis 60 Prozent aufgefahren hat. Begreift er nicht, was Handelshemmnisse garantiert anrichten? Im ersten Schritt jagen sie Inlandspreise hoch, im zweiten die Vergeltung, die Amerikas Exporte dezimiert. Egal, denn Drohungen und Unwägbarkeiten sind dazu da, Konzessionen zu erzwingen. Wozu sei denn Amerika die grösste Wirtschaft der Welt?

Unberechenbarkeit – weit genug weg vom Abgrund für einen sicheren Rückzug – ist das Wesen Trumpscher Taktik: einschüchtern und einsammeln, ohne Vabanque zu spielen. In Wahrheit hat Trump keine Prinzipien. Er ist wie ein ungezogenes Kind. Daraus folgt, dass die Kaffeesatzleser, die in diesen Tagen Expertisen am Fliessband produzieren, sich in Demut üben sollten – egal, ob triumphierende Trumpisten oder deprimierte Kassandras. Sie wissen es nicht, können es auch nicht wissen.

Dennoch gilt eine plausible Warnung in zwei Teilen. Der eine: Sofern die Republikaner auch das Repräsentantenhaus erobern (plausibel, aber noch nicht erhärtet), ist die Gewaltenteilung de facto bis 2026 verloren, nicht zu reden von der Trump-Mehrheit im Supreme Court. Zum zweiten ist kein Verlass mehr auf die «Erwachsenen im Raum», wie sie ein Anonymus in Trumps erstem Weissem Haus nannte. Leute wie einen Vizepräsidenten Mike Pence oder den früheren Verteidigungsminister James Mattis. Nun kommen nur noch 24-karätige Rechtgläubige auf die Liste der Kandidaten. Auch hier keine Bremsen mehr.

Dennoch wollen wir mit einem Trost enden, der im Wesen aller internationalen Politik verankert ist. Die Europäer werden im Schatten Putins aufrüsten – und zwar nicht nur, um Trump zu besänftigen, sondern im ureigenen Interesse. Die Zeit der «Friedensdividende» ist vorbei. Und Amerika tut den Europäern mit seinem Schutzschild keinen Gefallen. Der Isolationismus der 1920er und 1930er Jahre kommt nicht zurück, was immer Trump auch hinaustrompetet. Den Verlust des europäischen Kontinents mit 500 Millionen Menschen und der zweitgrössten Wirtschaft der Welt kann sich kein Amerika leisten, Trump hin oder her.

Doch wie lautet der berühmte chinesische Fluch? «Mögest du in interessanten Zeiten leben!»

Josef Joffe, ein deutscher Publizist, hat Politik in Harvard, Stanford und an der Johns Hopkins University unterrichtet.

Exit mobile version