Das Publikum leidet am glamourbefreiten Spiel der Franzosen. An dieser EM fehlt die Effizienz vor dem Tor. Das hat mit der Verfassung von Kylian Mbappé und Antoine Griezmann zu tun.

Es gab in Frankreichs Achtelfinal gegen Belgien eine Szene, die alles hätte ändern können. Kylian Mbappé lief, umringt von Gegnern, langsam an, beschleunigte mit einem Übersteiger auf Turbogeschwindigkeit, zog in die Mitte und schoss mit rechts. Es hätte das Tor des Turniers werden können, ein Monument, das alle Debatten unter sich begraben hätte. Aber Mbappé zielte zu hoch, er traf nicht. So wie es die Franzosen zu oft machen an dieser EM. Der Weltmeister von 2018 und WM-Zweite von 2022 hat vor dem Viertelfinal am Freitag ab 21 Uhr gegen Portugal in Hamburg erst drei Treffer in vier Spielen erreicht: nach einem Penalty und zwei Eigentoren.

Das ist nicht nur nie da gewesen, das ist auch wenig glamourös, und so stöhnt das französische Fussballpublikum dieser Tage noch mehr als bei vergangenen Turnieren über die Ästhetik des Teams von Didier Deschamps. In der allgemeinen Frustration wird allerdings übersehen, dass Frankreich bisher jedes seiner EM-Spiele optisch wie statistisch dominierte. 14:7 Abschlüsse (bei 44:43 Angriffen) gegen Österreich, 16:8 (58:26) gegen die Niederlande, 19:10 (62:21) gegen Polen, 20:6 (68:33) gegen Belgien. Macht 69 Torversuche – und kein eigenes Tor aus dem Spiel heraus. Man kann Frankreich an diesem Turnier vieles vorwerfen, aber keinen Effizienzfussball.

Würden sie besser zielen und so souverän gewinnen, wie sie verteidigen, die Weltöffentlichkeit würde wohl von der perfekten Balance der Franzosen schwärmen. Denn sich eigene Torgelegenheiten zu erspielen, ohne sich hinten eine Blösse zu geben, ist zuvorderst ein Anzeichen von Klasse und Favoritenfussball. Der Trainer Deschamps sieht daher bis jetzt überhaupt keinen Grund, an seinem Ansatz etwas zu ändern.

Defensiv glänzen die Franzosen – doch ein Rückstand wird zum Problem

Zum Selbstschutz operiert Deschamps am liebsten mit einem Mittelfeld aus drei zentralen, eher defensiven Akteuren. N’Golo Kanté, Aurélien Tchouameni und Adrien Rabiot – gegen Portugal gesperrt, ein möglicher Ersatz wäre Eduardo Camavinga – sichern eine Abwehr ab, die sich ihrerseits sehen lassen kann. Der exzellente Goalie Mike Maignan verkleinert gegnerischen Angreifern mit ausserordentlicher Reaktionsgeschwindigkeit die Schusswinkel und wurde an dieser EM bisher nur per Penalty bezwungen.

Der junge William Saliba erweist sich bei seinem ersten Turnier als sehr kompletter Innenverteidiger, sein als Fehlerteufel verschriener Partner Dayot Upamecano beliess es bisher bei einem verschuldeten Penalty gegen Polen, der Linksverteidiger Theo Hernández hält sich notfalls bei seiner offensive Risikofreude zurück, und Jules Koundé auf rechts ist als gelernter Innenverteidiger defensiv sowieso eine Bank.

Nach der Partitur Deschamps lassen sich die Franzosen allenfalls aus ihrer heiligen Ordnung bringen, wenn sie 0:1 in Rückstand geraten und die Partien irrationaler werden. So war es sowohl im nach Penaltyschiessen verlorenen WM-Final 2022 gegen Argentinien als auch im EM-Achtelfinal 2021 gegen die Schweiz. Steht jedoch die Null, dann spielt die Zeit für diese Meister der Geduld.

Dann kühlen sie ihre Gegner so herunter, bis die irgendwann gar nicht mehr an sich zu glauben scheinen. Kritiker hätten es halt nur gern ein bisschen spektakulärer. «Mit dieser Qualität und diesen Optionen müssten wir im Angriff viel besser spielen», sagt Emmanuel Petit, Nebenmann von Deschamps im Mittelfeld der Weltmeister von 1998.

Mbappé sucht noch die ideale Gesichtsmaske

Nicht zuletzt kann Frankreich auf den wohl besten Fussballer seiner Zeit zurückgreifen. Doch Mbappé leidet unter einem seltsamen Schisma zwischen WM und EM. Zwölf Toren an zwei Weltmeisterschaften steht bisher erst eines – per Penalty gegen Polen – an zwei Europameisterschaften gegenüber, und sein Nasenbeinbruch im Auftaktmatch hat die Sache nicht besser gemacht. Unablässig experimentiert Mbappé mit Gesichtsmasken, «schrecklich» fand er bisher alle miteinander. «Ich hasse es, mit ihr zu spielen, es ist wirklich mühsam.» Das Sichtfeld werde beeinträchtigt, Schweiss staue sich an.

Gegen Belgien übte sich bis zum späten Sieg-Eigentor aber auch das übrige Team in slapstickartiger Harmlosigkeit. Ein sonst aus der mittleren Distanz sehr zielsicherer Spieler wie Tchouameni setzte reihenweise Bälle über das Tor. Insgesamt schafften es von den 20 Abschlüssen nur zwei auf das Gehäuse.

Frankreichs grösstes Sorgenkind heisst momentan Antoine Griezmann. Erstmals in der zwölfjährigen Ära Deschamps ist der Offensiv-Allrounder an einer Endrunde kein Leistungsgarant. Griezmann, 33, wirkt überspielt, und doch kommen die Probleme von weiter her. In seinen letzten 32 Länderspielen erzielte er nur zwei Tore – nachdem er in 101 Einsätzen zuvor 42 Mal getroffen hatte.

Griezmann wird beim Captain-Amt übergangen

Ein Teil der Torkrise von «Grizou» mag dem Umstand geschuldet sein, dass Deschamps das französische Spiel in den letzten Jahren immer ungenierter auf Mbappé ausgerichtet hat. Griezmann rückte demgegenüber in eine eher spielmachergleiche Rolle. Auch neben dem Platz musste er zurückstecken, als Deschamps die Captainbinde des abgetretenen Hugo Lloris nach der WM an Mbappé vergab und damit die natürliche Thronfolge überging. Doch auch als Griezmann im Match gegen die Niederlande wegen des Ausfalls von Mbappé wieder mit alten Freiheiten agieren konnte, traf er das Tor nicht.

«Er hätte etwas effektiver sein können», merkte Deschamps nach dem Belgien-Spiel an, nachdem er Griezmann gegen Polen sogar auf der Bank belassen hatte. Zu den Torproblemen der gesamten Mannschaft befand der Coach, es gelte «das Schicksal zu erzwingen», ehe sich die Zweifel zu einer «psychologischen Blockade» ausweiten würden. Man werde daran arbeiten, so Deschamps. Nicht auszudenken, wie unangenehm die Franzosen erst wieder sein werden, sollte er damit Erfolg haben.

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