Mittwoch, November 27

Kurz vor der Präsidentschaftswahl geht die Angst vor einem Wahlchaos um. Doch die Wahlen und die Institutionen in den USA sind um einiges stabiler, als man meint.

Fürwahr, an apokalyptischer Rhetorik mangelt es nicht im amerikanischen Wahlkampf. Die Republikaner unterstellen den Demokraten erneut betrügerische Absicht. Donald Trump will eine mögliche Niederlage nur akzeptieren, wenn sie «fair» ist, also wegen des pauschal unterstellten Betrugs gar nie.

Kamala Harris und die Demokraten wähnen in Trump einen gefährlichen Diktator. Beide Kandidaten pauken ihren Wählern ein: Siegen nicht sie, steht die Republik vor dem Abgrund. Da ist es kein Wunder, erwarten bloss 37 Prozent der Amerikaner eine faire und offene Präsidentschaftswahl im November. Und auch diesseits des Atlantiks fragt man sich: Kommt das gut?

Die Skepsis ist berechtigt: Schliesslich führte die letzte Präsidentschaftswahl zu einer Art Nahtoderfahrung der amerikanischen Demokratie. Und mit Donald Trump, der damals den Sündenfall beging, seine Niederlage nicht anerkannte und umstürzlerische Verschwörungen anzettelte, tritt derselbe Kandidat der Republikaner erneut an.

Doch Trump ist kein Hitler, Harris ist keine Marxistin – und 2024 ist nicht 2020. Vor vier Jahren herrschte in den USA der Ausnahmezustand. Die Pandemie, die Massenproteste rissen das Land und seine Bürger auseinander. Der Boden für Verschwörungstheorien war fruchtbar, und das Wahlchaos, das sich über einen Monat dahinzog und am 6. Januar im Sturm der Trump-Anhänger auf das Capitol kulminierte, war eine Folge davon. Niemand hatte diese Eskalation vorausgesehen. Wer weiss, was dieses Mal alles geschehen kann?

Wichtige Reformen in Washington

Die Wahlen werden wieder umstritten sein, denn die amerikanische Demokratie ist «messy» geworden. Aber seit 2020 wurden wichtige Lehren gezogen.

Der Kongress hat seine Hausaufgaben gemacht und das Gesetz reformiert, das die Zertifizierung der Präsidentschaftswahl regelt. Die vorher lückenhafte und missverständliche Electoral Count Act ermöglichte es Trump, die formelle Bestätigung der Wahl von Joe Biden im Kongress zu torpedieren. Fast hätte der Plan geklappt, wenn sich nicht Vizepräsident Mike Pence quergestellt hätte. Nach der Reform kommt nun dem Vizepräsidenten klar eine rein zeremonielle Rolle zu. Die Hürden für die Anfechtung eines Wahlresultats liegen viel höher. «Fake electors» werden nicht mehr zum Einsatz kommen: Die Gouverneure schicken die Delegationen nach Washington und sonst niemand.

Auch der Supreme Court hat gewisse Leitplanken gesetzt, die stabilisierend wirken. Er erteilte der «independent state legislature theory» eine Abfuhr. Diese unter Trump-Beratern populäre Rechtstheorie wollte den Parlamenten in den Teilstaaten die alleinige Entscheidungsmacht bei Wahldisputen erteilen, unabhängig von den Gerichten. Der Supreme Court stützte mit seinem Urteil die bisherigen Checks und Balances in den Teilstaaten und verbannte diese demokratiefeindliche Idee in den Giftschrank der Rechtsgeschichte. Zudem sorgte er dafür, dass er bei wahlrechtlichen Klagen Express-Urteile fällen kann. Und das wird nötig sein.

Die juristische Schlacht hat begonnen

Denn dieses Jahr sind die Gerichtssäle ein Hauptschauplatz des Showdowns zwischen Trump und Harris. Und der ist bereits in vollem Gang: Derzeit laufen in 26 Teilstaaten insgesamt 120 Gerichtsprozesse, bei welchen es um ein Sammelsurium von Streitgegenständen geht: die Wählerregister, die Gültigkeit der Stimmabgaben, die Besetzung von Wahlkommissionen, die Rechte von Wahlbeobachtern und vieles mehr. Im Kern geht es um den Zugang zu den Wahlen. Die Republikaner wollen diesen stärker kontrollieren, um die Integrität der Wahlen zu beschützen, die Demokraten sehen darin eine Unterdrückung der Wahlrechte von marginalisierten Gruppen.

Fraglos nutzen beide Parteien den Rechtsweg, um sich an der Urne Vorteile zu verschaffen. Das ist keine neue Strategie, aber mit der zunehmenden Polarisierung der Wählerschaft wird der teure Rechtsweg immer öfter begangen. Da in den umkämpften Teilstaaten ein paar tausend Wählerstimmen den Ausschlag dafür geben können, wer ins Weisse Haus zieht, kann es matchentscheidend sein, ob in einem Navajo-Reservat in Arizona eine mobile Urne steht oder nicht. Oder ob die Stimmen in Altersheimen gesammelt werden dürfen. Anderseits können zu lockere Regeln tatsächlich die Sicherheit von Wahlen beeinträchtigen, ein Argument, das die Republikaner seit Jahrzehnten anbringen.

Die Republikaner sind bei den Rechtsklagen in der Offensive, sie überfluten die Behörden in den Swing States geradezu mit Klagen. Dabei verfolgen sie auch Ziele, die wenig mit der Sicherheit der Wahlen zu tun haben. Vielmehr dienen manche Klagen bloss dazu, Trumps «Big Lie», dass bei amerikanischen Wahlen im grossen Stil betrogen werde, zu verbreiten. Das schafft ein Klima des Misstrauens und mobilisiert die Wählerschaft trefflich.

Ausserdem lässt sich mit diesen Zombie-Klagen der Weg für die Anfechtung einer möglichen Niederlage von Donald Trump vorbereiten. Die Republikanische Partei hat angekündigt, in jedem Auszählungszentrum einen Anwalt zu platzieren. Hunderttausend Wahlbeobachter würden bereitstehen, um in Wahllokalen nach Unregelmässigkeiten Ausschau zu halten. Ähnliches spielte sich vor vier Jahren ab, ohne dass damit die Wahl von Joe Biden verhindert worden wäre.

Die Gerichte haben sich bewährt

Das Endziel der Klageflut ist nicht durchsichtig, Wahlrechtsexperten zerbrechen sich die Köpfe darüber. Vielleicht hofft Donald Trump auf einen Richter, der unter dem Tsunami von Wahlbetrugsklagen einbricht? Aber dann gäbe es ja noch die höheren Instanzen. Oder Chaos könnte verhindern, dass ein Teilstaat rechtzeitig ein Resultat zertifizieren kann. Werden dann dessen Elektorenstimmen kurzerhand gestrichen? Eines ist klar: Die Gerichte werden viel zu tun haben zwischen der Wahlnacht und dem 11. Dezember, dem Tag, an dem die Gouverneure ihre Elektoren beisammenhaben müssen.

Man darf zuversichtlich sein, dass die amerikanische Justiz diese Aufgabe bewältigen wird. Die Gerichte in den Teilstaaten haben 2020 Haltung bewiesen – alle 60 Klagen von Donald Trump scheiterten. Der Supreme Court in Pennsylvania machte beispielsweise klar, dass es nicht infrage kommt, die Spielregeln kurz vor den Wahlen zu verändern. Ebenso undenkbar ist es, dass der Supreme Court Hand böte, Millionen von Wählerstimmen zu disqualifizieren. Damit kamen die Trump-Anwälte schon 2020 nicht durch.

Eigentlich kommt der Justiz in den Wahlen per Verfassung keine offizielle Rolle zu. Aber auch dieses Jahr werden Richter entscheiden, ob undatierte briefliche Wahlzettel in Pennsylvania gültig oder ob die Hurrikan-Notmassnahmen in North Carolina zulässig sind. Bei einem sehr knappen Wahlresultat in einem Teilstaat könnte der Supreme Court sogar ein Resultat festlegen müssen, wie es schon im Jahr 2000 im Fall Bush vs. Gore der Fall war.

Das damalige Urteil setzte den Supreme Court heftiger Kritik aus und zeigt, wie heikel eine Osmose der Staatsgewalten ist. Doch wenn zerstrittene Politiker nicht mehr fähig sind, sich auf Wahlregeln zu einigen, dann müssen die Gerichte einspringen, dann braucht es das Korrektiv der richterlichen Vernunft.

Mehr Transparenz, mehr Engagement

Die heftige Auseinandersetzung um die Wahlorganisation hat auch positive Folgen, die oft übersehen werden. Notorisch nachlässige und unterfinanzierte Wahlbehörden sind nun motiviert, verstaubte Wählerlisten zu aktualisieren und die Sicherheit ihrer Prozesse zu überprüfen. Sie haben zudem gelernt, die Wählerinnen und Wähler besser darüber zu informieren, wie sie die Stimmen auszählen. Auch die absehbaren Rechtsstreite nach den Wahlen haben ihr Gutes: Ein Resultat gewinnt durch akribische Nachzählungen an Legitimität und kann das Vertrauen der Bürger in ihr Wahlsystem wieder stärken. Wenn zwei Drittel der Amerikaner daran zweifeln, ob die Wahlen fair sind, lohnt sich der Aufwand.

Ein weiteres Zeichen, dass es um die amerikanische Demokratie vielleicht doch nicht ganz so übel steht: Noch nie haben so viele Amerikanerinnen und Amerikaner an einer Präsidentenwahl teilgenommen wie 2020 – 66 Prozent der Stimmberechtigten. Auch dieses Jahr wird eine Rekordbeteiligung erwartet. Rund 80 Prozent der Befragten interessieren sich für die Wahlen. Das grosse Engagement ist eine direkte Folge des Erscheinens von Donald Trump auf dem politischen Parkett. So erschüttert das Vertrauen der Amerikaner in die Politik auch ist, sie strömen doch an die Urnen und glauben daran, dass ihre Stimme zählt.

Natürlich ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Die amerikanische Demokratie hat im November einen weiteren Stresstest zu bestehen. Das Gewaltpotenzial bleibt gross, aufgepeitscht durch die Weltuntergangsrhetorik der Kandidaten. Einen Sturm aufs Capitol wird es kaum mehr geben. Niemand hat Appetit auf eine Wiederholung dieser ebenso brachialen wie blödsinnigen Aktion der Trump-Anhänger, die letztlich scheiterte und viele Akteure ins Gefängnis spedierte.

Und ja, in der Wahlnacht wird jedes Rechtsmittel ausgeschöpft werden, Verzögerungen sind programmiert. Es können Tage, wenn nicht Wochen vergehen, bis ein Sieger feststeht. Und doch: Am Ende wird ein Präsident oder die erste Präsidentin ins Weisse Haus einziehen – ordentlich gewählt und inauguriert.

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