Die wahrscheinliche neue Regierung hofft, die Probleme Grossbritanniens durch mehr Wirtschaftswachstum zu lösen. Doch woher soll das kommen? Würde Labour eine Annäherung an die EU wagen?
Als die Labour-Partei im vergangenen Herbst in Liverpool ihren Kongress abhielt, reisten die Wirtschaftsvertreter in Scharen an. Das überschäumende Interesse war auch das Resultat einer Charmeoffensive des Parteichefs Keir Starmer und seiner Schatten-Finanzministerin Rachel Reeves. Die beiden haben in den letzten Monaten fast alle CEO der 350 grössten britischen Unternehmen getroffen. «Labour ist die natürliche Wirtschaftspartei», sagt Reeves gerne und verweist auf ihre Erfahrung als Ökonomin bei der Bank of England. «Sie wissen jedenfalls, was wir hören wollen», erklärte ein Bankenvertreter aus der Londoner City jüngst im vertraulichen Gespräch.
Stabilität statt Turbulenzen
Wirtschaftsfreundliche Töne stimmen Starmer und Reeves auch in der Kampagne vor der Unterhauswahl vom 4. Juli an, welche die Labour-Partei gemäss den Umfragen deutlich gewinnen dürfte. Starmer distanziert sich bei jeder Gelegenheit von seinem Vorgänger Jeremy Corbyn. Dieser wollte vor fünf Jahren seine sozialistisch angehauchten Verstaatlichungs- und Umverteilungspläne mit höheren Steuern, Schulden und Marktinterventionen umsetzen. Starmer hingegen gibt sich pragmatisch. «Ich will Premierminister werden, nicht Zirkusdirektor», konterte er den Vorwurf, sein Programm sei langweilig.
Doch die Langeweile ist geradezu Programm. Die Konservativen hatten dem Land während ihrer vierzehnjährigen Regierungszeit die Brexit-Turbulenzen beschert und den Premierminister allein in den letzten fünf Jahren viermal ausgewechselt. Die Investitionen der Unternehmen haben sich nie vom Einbruch nach der Brexit-Abstimmung erholt. Das Hüst und Hott gipfelte in der 45-tägigen Amtszeit von Liz Truss, die im Herbst 2022 mit ihren Plänen für ungedeckte Steuersenkungen eine Krise an den Finanzmärkten provozierte.
Nun setzt Starmer darauf, dass mehr politische Stabilität das Wirtschaftsklima verbessern wird. Er verspricht, die
Gewinnsteuer für Unternehmen für die Dauer der nächsten Legislatur bei den heutigen 25 Prozent zu belassen. Sorgen bereiten in Wirtschaftskreisen allerdings Labours Pläne, den flexiblen Arbeitsmarkt zu regulieren. Wie weit die Reformen gehen werden, bleibt abzuwarten, doch soll die Einführung von Gesamtarbeitsverträgen auf den Bereich der Pflege von Alten und Behinderten begrenzt werden.
Schwieriges Erbe
Fest steht, dass Starmer ein schwieriges Erbe antritt, sollte er am 4. Juli zum Premierminister gewählt werden. Im ersten Quartal des laufenden Jahres betrug das Wirtschaftswachstum bloss 0,6 Prozent gegenüber der Vorjahresperiode. Derweil ist die Steuerlast so hoch wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr, und die Staatsverschuldung dürfte im laufenden Jahr auf 97,9 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen. Gleichzeitig ist der Investitionsbedarf enorm: Die Kanalisationen und Schulhäuser sind veraltet, etliche Gemeinden stehen vor dem Bankrott, und die Wartelisten beim Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) schlagen alle Rekorde.
Gemessen an diesen Problemen muten die konkreten Wahlversprechen Labours bescheiden an. Die Partei will die Mehrwertsteuer auf die Gebühren von Privatschulen erhöhen, die Steuerpflichten für nicht domizilierte Ausländer verschärfen und die Gewinne von Energiefirmen mit einer Sondersteuer belegen. Mit den so eingenommenen 8,5 Milliarden Pfund (9,6 Milliarden Franken) will die Partei die NHS-Wartelisten abbauen und neue Lehrer anstellen. Zudem will Starmer pro Jahr 3,5 Milliarden Pfund neue Schulden machen zum Aufbau einer öffentlichen Firma zur Förderung erneuerbarer Energien.
Gemessen an den staatlichen Gesamtausgaben von 1100 Milliarden Pfund sind das alles Kleinigkeiten. Denn der finanzielle Spielraum ist eng begrenzt. Zum einen haben Starmer und Reeves Erhöhungen der Einkommens- und Mehrwertsteuer sowie der Lohnabgaben ausgeschlossen. Zum anderen will Labour an den Haushaltsregeln festhalten. Sie limitieren die jährliche Neuverschuldung auf 3 Prozent der Wirtschaftsleistung und besagen, dass die Staatsschulden innerhalb von fünf Jahren abnehmen müssen. Mehr Schulden sind für Starmer auch politisch kaum eine Option, da den Briten der Schock der Marktreaktion auf die Haushaltspläne von Liz Truss noch in den Knochen steckt.
Um den riesigen Schuldenberg abzubauen, wird die künftige Regierung aber aufgrund der Haushaltsregeln ab 2025 erhebliche Sparmassnahmen in praktisch allen Ministerien einleiten müssen. Das renommierte Institute for Fiscal Studies wirft daher sowohl Labour wie auch den Konservativen vor, in ihren Wahlprogrammen die Folgen dieser drohenden Budgetkürzungen zu verschweigen.
Planungsreform soll Wachstum fördern
Starmer beteuert immer wieder, dass es unter seiner Führung keine Rückkehr zur Austerität geben werde. Ohne Sparmassnahmen, zusätzliche Schulden oder Steuererhöhungen bleibt ihm nur die Hoffnung, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung rasch mehr Geld in die Staatskasse spült.
Doch woher soll dieses Wachstum kommen? Neben dem Glauben, dass politische Stabilität das Investitionsklima verbessern wird, setzt Starmer auf eine Reform des Planungswesens. Tatsächlich erschwert und verteuert das Dickicht der Vorschriften und Einsprachemöglichkeiten die Umsetzung von Grossprojekten wie den inzwischen massiv reduzierten Bau der Hochgeschwindigkeits-Zugstrecke HS2. Die Planungsgesetze schützen auch die Interessen von Immobilienbesitzern, die in ihrer Umgebung den dringend nötigen Bau weiterer Häuser torpedieren.
Weil die Labour-Wählerschaft jünger und urbaner ist als jene der Tories, dürfte eine Labour-Regierung eher in der Lage sein, sich mit den Hausbesitzern anzulegen. Da die sozialdemokratischen Wählerinnen und Wähler auch viel EU-freundlicher sind als jene der Konservativen, hätte Starmer wohl auch den politischen Spielraum, um drei Jahre nach der Umsetzung des Brexits die Beziehungen zur EU auf eine neue Basis zu stellen.
Ein Abbau der durch den Brexit entstandenen Handelshürden wäre für Labour auch eine Möglichkeit, das Wachstum anzukurbeln. In einer Studie kam die Investmentbank Goldman Sachs kürzlich zu dem Schluss, Grossbritannien sei in den letzten acht Jahren wegen des Brexits um 5 Prozentpunkte weniger stark gewachsen als vergleichbare Volkswirtschaften.
Angst vor Brexit-Korrektur
Die British Chamber of Commerce fordert die künftige Regierung daher auf, den «Brexit-Eiertanz» zu beenden und engere Handelsbeziehungen mit Brüssel einzugehen. Doch Starmer hat im Wahlkampf eine Neuauflage der Brexit-Debatte tunlichst vermieden. Er verspricht zwar einen atmosphärischen Neuanfang, will mit der EU aber bloss Nebensächlichkeiten wie ein Veterinärabkommen oder einen Vertrag zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsdiplomen aushandeln.
Ein substanzieller Abbau der Handelshürden wäre durch einen Beitritt zur Zollunion oder zum EU-Binnenmarkt möglich. Doch dies schloss Schattenwirtschaftsminister Jonathan Reynolds am Donnerstag erneut kategorisch aus. Denn eine zu radikale Korrektur des Brexits würde die Wunden der Vergangenheit wieder öffnen und das vorrangige Labour-Ziel der Stabilität hintertreiben, erklärte er.
Denkbar ist, dass sich der Leidensdruck und damit das Ambitionsniveau Labours in den nächsten Jahren vergrössern werden. Auch dürften Steuererhöhungen und Sparmassnahmen rasch aufs Tapet kommen, sollte die Hoffnung auf einen Wachstumsschub platzen. Starmer hat sich in den letzten Monaten damit begnügt, die klägliche Bilanz der konservativen Regierung zu kritisieren und möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten. Zieht er nächste Woche in den Regierungssitz an der Downing Street Nummer 10 ein, wird er um schwierige Entscheidungen und Güterabwägungen nicht mehr herumkommen.