Vermögensverwalter Jens Ehrhardt sieht eine gefährliche Sorglosigkeit am Markt. Dass die Unternehmensgewinne 2024 wie von Analysten erwartet um 10% wachsen, hält er für illusorisch. Auch für die kommenden zehn Jahre sei nur eine unterdurchschnittliche Aktienrendite zu erwarten.
Seinen Kunden Gunter Sachs traf Jens Ehrhardt in den Siebzigerjahren oft in Saint-Tropez oder St. Moritz auf den Partys des Unternehmenserben (Fichtel & Sachs, Opel). Die Schauspielerin Brigitte Bardot und der Künstler Andy Warhol waren dort ebenso zu Gast wie der Nachrichtenmagazinverleger Rudolf Augstein.
Der Gründer des Vermögensverwalters DJE Kapital aus Pullach bei München hat aber nicht nur den Jetset beim Feiern erlebt. Der 82-jährige Herausgeber des seit 1974 wöchentlich erscheinenden Börsenbriefs «Finanzwoche» gehört auch zu den wenigen noch aktiven Fondsmanagern, die das Kapital der Kunden schon einmal erfolgreich durch eine Dekade hoher Inflation und steigender Zinsen gesteuert haben.
Herr Ehrhardt, überall herrscht Partystimmung: an den Märkten für Gold, für Bitcoin, für die grossen Tech-Aktien oder Hochzinsanleihen. Wie ist Ihre Stimmung? Feiern Sie mit?
Nicht so sehr. Ich brauche zum Investieren einfach einen Hintergrund, der entweder durch tatsächliche Werte oder auch durch eine grossartige Geschäftsidee die Kurssteigerungen untermauert. Deshalb war ich nie ein Bitcoin-Anhänger.
Sie analysieren seit Jahrzehnten drei Bereiche: die fundamentale Wirtschaftsentwicklung, die Markttechnik und die monetäre Entwicklung. Welcher Bereich hat in den kommenden Monaten den grössten Einfluss auf die Märkte?
Das Monetäre ist immer das, was alle anderen Einflussfaktoren überlagern kann. Wenn die monetäre Entwicklung extrem ist, wie zum Beispiel in der Covid-Pandemie, dann erschlägt ein solcher Indikator alles andere. Damals wurde viel Geld geschaffen von den Notenbanken. Da kann an schlechten Unternehmensmeldungen kommen, was will: Der Markt steigt trotzdem. Aktien werden eben mit Geld gekauft.
Ist die Liquiditätsentwicklung auch derzeit entscheidend?
In der nächsten Zeit bleibt die Liquidität wohl der wichtigste Faktor. Die Unternehmensgewinne sind natürlich auch wichtig. Aber Sie können schon an den schwankenden Kurs-Gewinn-Verhältnissen sehen, dass das ein sehr langfristiger Indikator ist, der manchmal jahrelang vernachlässigt werden kann. Die Kurse können steigen, obwohl die Gewinne fallen, und umgekehrt.
Fällt Ihnen dafür ein Beispiel ein?
Nehmen Sie die Kurs-Gewinn-Verhältnisse, KGV, in Japan. Als ich anfing in meinem Beruf, lagen sie zwischen 5 und 10. Zu den Höchstkursen 1990, da waren die japanischen KGV fast bei 100. Heute sind sie wieder bei etwas mehr als 10. Diese enormen Schwankungen zeigen, dass die Kurse nicht eins zu eins korrelieren mit den Gewinnen.
Für die kommenden Monate, sagen Sie, bleibt das Monetäre der wichtigste Faktor. Wie wird sich denn die Liquidität für die Märkte entwickeln?
Die Notenbank in den USA hat gerade bestätigt, dass sie 2024 wahrscheinlich drei Mal die Zinsen senkt. Zu Jahresanfang waren die Marktakteure noch von sechs bis sieben Zinssenkungen ausgegangen. Die Erwartungen könnten sich meiner Meinung nach sogar weiter abkühlen, wenn die US-Wirtschaft so stark bleibt wie derzeit und die Inflationsrate wieder steigt.
Die Notenbanker haben sich ohnehin nicht genau festgelegt. Fed-Präsident Jerome Powell hat nur gesagt, dass er nicht übersteuern wird mit der Bremsung und auch den Abbau der Notenbankbilanz rechtzeitig zurückfahren wird. Er hat die Märkte stark beruhigt. Insofern glaube ich, dass wir im Jahresverlauf wieder monetären Rückenwind haben werden.
Wie ist die Liquiditätslage denn derzeit?
Wir haben zumindest im ersten Halbjahr noch leichten Gegenwind. Bisher ist seit Jahresanfang das Zinsniveau gestiegen, und durch die Anleihenverkäufe zum Abbau der Fed-Bilanz ist die Liquidität auch nicht besser geworden. Selbst wenn die Zinsen wie erwartet um 0,75 Prozentpunkte gesenkt würden, lägen sie mit 4,5% immer noch wesentlich höher als vor der Zinswende. Und das hat in der Vergangenheit Konjunktur und Börse eigentlich immer gebremst.
Heute haben die Zinsen wieder ähnlich starke Auswirkungen auf die verfügbaren Einkommen wie zum Beispiel 2000 und 2007. Und das waren Punkte, wo dann die Börsenkurse fielen. Die Zinsen sind jetzt auf einem Niveau, an dem die Bremswirkung für die Konjunktur nicht unterschätzt werden sollte.
Zinsprognosen sind schwierig, das wissen wir. Was ist Ihr Bauchgefühl?
Ich glaube schon, dass die Zinsen gesenkt werden, weil die Konjunktur am Schluss doch nach unten überraschen wird. Und dann wird sich die Notenbank doch beeilen beim Gegensteuern. Aber bis dahin kann es eben noch ein bisschen dauern.
Sie erwarten also eher eine enttäuschende Konjunkturentwicklung im weiteren Jahresverlauf? An welchen Indikatoren machen Sie das fest?
Alle konzentrieren sich jetzt auf die drei Zinssenkungen, die aus heutiger Sicht im zweiten Halbjahr kommen werden und dann Entlastung bringen. Aber nur wenige sehen die Belastungen, die wir im ersten Halbjahr noch vor uns haben, verbunden mit entsprechenden Folgen auch für die Unternehmensgewinne. Alle gehen davon aus, dass die Gewinne um 10% steigen. Aber wenn man zum Beispiel sagt, dass die Wirtschaft real nur um 2% wächst und die Inflation wirklich auf 2% zurückgeht, hätten wir bloss 4% nominales Wachstum. Und das ist dann voraussichtlich zu wenig, um im Durchschnitt eine Gewinnsteigerung um 10% zu haben.
Es herrscht zu viel Optimismus. Rezessionsindikatoren, zum Beispiel die inverse Zinsstrukturkurve, bestehen immer noch. Deshalb würde ich das Risiko nicht unterschätzen, dass wir einen Knick in der Konjunktur bekommen. Es muss keine Riesenrezession werden, aber eine leichte, was die grosse Mehrheit der Marktteilnehmer derzeit jedoch ausschliesst.
Wir sind nun schon beim dritten Bereich Ihrer Analyse, bei Anlegerstimmung und Markttechnik. Sie beklagen zu wenig Bewusstsein für die Risiken. Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Die Stimmungsindikatoren helfen dabei, antizyklisch richtige Entscheidungen zu treffen. Eben immer dann, wenn die Stimmung nach oben oder unten überschäumt oder unterkühlt. Das Dumme ist nur, dass der Optimismus manchmal noch überbordender werden kann. Viele Haussen endeten erst in wirklicher Euphorie, mit sehr hohem Umsatz. Und das haben wir noch nicht gehabt.
Der Zeiger hängt so ein bisschen in der Mitte – mit einer leicht ungünstigen Neigung, weil der Optimismus doch überwiegt. Am Optionsmarkt kaufen die Leute relativ wenig Puts, also ist kaum Absicherung da. Die Barreserven der Fondsmanager sind eher niedrig. Es gibt eine ganze Reihe von Stimmungsindikatoren, die eher zur Vorsicht mahnen. Das sind mehr oder minder klare Verkaufssignale. Aber bis die sich auswirken, kann sich das manchmal etwas hinziehen in einem Bullenmarkt. Erst wenn auch das Monetäre schlecht wird, kippt das Ganze.
Sind Aktien insgesamt denn so hoch bewertet, dass ein Kursrutsch gerechtfertigt wäre?
Die Bewertungen sind heute stellenweise erhöht, und die Marktkonzentration auf wenige Aktien und Sektoren ist so ausgeprägt wie 2000. Die Fondsmanager sind fast alle in einer Ecke versammelt, bei einigen grossen US-Tech-Konzernen. Das ist höchst ungewöhnlich. Diesmal sitzen alle in der Tech-Ecke. Aus markttechnischer Sicht könnten wegen der Überinvestition dort die Kurse auch einmal fallen, wenn negative Meldungen kommen sollten.
Welche Marktsegmente sind denn zu stark ignoriert und bieten Potenzial?
Vernachlässigt werden unter anderem die kleineren Werte. Die schaut kaum einer mehr an, hier könnte am ehesten eine überraschende Aufwärtsbewegung kommen. Da könnte trotz der Konjunkturflaute – denn 1 bis 2% Wachstum in den USA sind ja keine tolle Konjunktur – durchaus Schwung reinkommen, einfach aus markttechnischem Grund und weil die fundamentale Bewertung überwiegend deutlich günstiger ist als bei den Favoriten.
Die Hausse ist in den vergangenen Monaten allerdings breiter geworden. Der Vermögensverwalter Alfons Cortés sieht 60% der Aktien in einem Aufwärtstrend, eine Bandbreite von zwischen 60 und 80% hält er für gesund. Sie teilen diese Sicht offenbar nicht, wenn Sie vor einer so hohen Marktkonzentration wie im Jahr 2000 warnen?
Auch wenn der Kursaufschwung zuletzt etwas an Breite gewonnen hat, halte ich die Marktkonzentration nach wie vor für gefährlich hoch. Tatsache ist wirklich, dass die Masse der Titel den Indexschwergewichten hinterherhinkt. Im Jahr 2000 endete das übel für die Leitindizes und die grossen Aktien. Aber die kleinen Valoren stiegen, weil ihre Kurse schon 1998 um rund die Hälfte eingebrochen waren. So eine Rally der Nebenwerte könnte diesmal auch passieren, weil es dort keine Überinvestition gegeben hat, anders als bei manch grossen Aktien. Die Markttechnik spricht diesmal für eine Erholung der Nebenwerte.
Wie ist denn die Bewertung bei den übrigen 493 Standardwerten im S&P 500 jenseits der lange Zeit dominanten glorreichen Sieben?
Die übrigen Aktien jenseits der grossen Wachstumswerte sind gar nicht so teuer, sondern eher normal bewertet. Deswegen glaube ich auch nicht an einen riesigen Kurssturz.
Wie hoch ist der europäische Aktienmarkt bewertet?
Das Interessante ist, dass auch in Europa wenige Aktien für einen grossen Teil des Kursanstiegs verantwortlich waren. Wir hatten auch in Europa eine erstaunlich hohe Konzentration, die vielen aber gar nicht aufgefallen ist.
Goldman Sachs hat vor vier Jahren begonnen, von den «Granolas» zu sprechen, einer Gruppe bestehend aus den elf Aktien GSK, Roche, ASML, Nestlé, Novartis, Novo Nordisk, L’Oréal, LVMH, AstraZeneca, SAP und Sanofi. Die haben als Gruppe von Januar 2021 bis Dezember 2023 mit den glorreichen Sieben mitgehalten. Sie waren 2023 für 60% der Kursgewinne des europäischen Stoxx-600-Index verantwortlich.
Der eine oder andere dieser europäischen Favoriten ist wirklich nicht billig, zum Beispiel Novo Nordisk.
Alles in allem: Wie teuer sind europäische Aktien denn nun?
Das ist ähnlich wie in den USA: Die favorisierten Aktien sind inzwischen recht hoch bewertet und der breite Markt dagegen eher niedrig. Der Bewertungsabschlag von Europa im Vergleich zu den USA liegt bei 30%. Das ist ein historisches Hoch. Die meisten europäischen Titel sind weder im Vergleich zu den USA noch im historischen Vergleich teuer. Von der Seite her kann ich nur bessere Börsen erwarten. Aber Europas Börsen fahren im Schlepptau der USA. Ich habe noch nie erlebt, dass sich Europa richtig abkoppeln konnte.
Wagen wir den Blick auf die kommenden zehn Jahre. Welche jährliche Rendite ist realistisch, angesichts der Aktienbewertungen?
Bereinigt um die grossen, teuren Titel ist der Markt durchschnittlich bewertet. Und im Durchschnitt sind die Aktienmärkte langfristig um 6 bis 7% pro Jahr gestiegen. Das wäre so gesehen auch für die nächsten zehn Jahre zu erwarten. Ich glaube, dass die Konzentration in den teuren Aktien zu hoher Börsenkapitalisierung das Potenzial des Marktes beschränkt. Zur Vorsicht mahnt auch die gesamte US-Börsenkapitalisierung im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt. Dieser Indikator, den Warren Buffett gern zitiert, steht auf Rekordhoch. Wenn dann noch die Notenbanken nicht gerade nochmals so aggressiv sind wie in früheren Jahren, sondern ihre Bilanzen reduzieren, dann sehe ich nicht so viel Potenzial für die nächsten zehn Jahre. Also eher etwas weniger als die bisher durchschnittlich erzielten 6 bis 7% Gesamtrendite pro Jahr.
Wie attraktiv sind Bonds? Anleihen haben ja nach einer ersten Zinssenkung meist Kursgewinne erzielt. Wird das auch diesmal so sein?
Ja. Aber auch hier kommt es ein bisschen auf die Marktteilnehmer an. Zuletzt waren die Fondsmanager so stark in Anleihen investiert im Verhältnis zu Aktien wie noch nie, seit diese Daten erfasst werden. Diese bereits starke Positionierung spricht dagegen, dass Anleihen der Hauptrenner dieses Jahres werden. Wir werden dort eher einen unterdurchschnittlichen Anstieg sehen. Das Schöne ist, dass dieser Anstieg mit einer recht hohen Sicherheit eintreten sollte.
Der Goldpreis stieg Mitte März auf ein Rekordhoch. Wie sind die Chancen für die kommenden Monate?
In Euro gerechnet ist der Goldpreis binnen zwei Jahren um rund 20% gestiegen. Gold als Investment war sogar besser als die meisten grossen US-Wachstumswerte, weil die ja 2022 gewaltig gefallen waren und erst 2023 wieder hochgekommen sind. Ich könnte mir vorstellen, dass Gold auch weiterhin eine sehr gute Anlage ist. Ein Zinsrückgang war fast immer gut für den Goldpreis. Ausserdem kaufen die Chinesen viel Gold. Für Potenzial sorgt auch, dass sich viele US-Anleger von Gold verabschiedet haben und rein in Bitcoin sind. Ihre Investitionsquote in Gold verharrt auf einem Dreijahrestief. Gold könnte dort wiederentdeckt werden, so wie früher auch in schöner Regelmässigkeit. Der Aufwärtstrend müsste sich fortsetzen.
Was ist mit Energie- und Industrierohstoffen?
Der Kupferpreis ist zuletzt gestiegen. Das spricht grundsätzlich für eine bessere Konjunktur, auch in China, denn die Chinesen sind im grossen Stil Abnehmer von Kupfer. Sie brauchen viel Kupfer für die Herstellung von erneuerbarer Energie und für Elektroautos. Diese Sektoren laufen in China gut. Die Kupfervorräte sind auch nicht sehr umfänglich. Ich kann mir vorstellen, dass der Preis sich weiter positiv entwickelt.
Nicht nur «Dr. Copper», auch die Chemienachfrage in China zieht wieder an, urteilen die Analysten von Berenberg in einer Kaufempfehlung für BASF. Erleben wir gerade eine Erholung der Industrieproduktion in China?
Ja, durchaus möglich. Leider ist China in den letzten Jahren viel intransparenter geworden, weil der Staat immer weniger Daten veröffentlicht, und daher schwieriger einzuschätzen. Was für China spricht, sind die niedrigen Leitzinsen von 2,5%.
Sind niedrig bewertete Industriekonzerne mit hohem China-Umsatzanteil wie BASF angesichts ihrer niedrigen Bewertung interessant?
Die Chemie dürfte schon eine gute Wachstumsbranche auf Dauer sein, in China noch mehr als im Westen, weil viele Grundbedürfnisse damit zusammenhängen. BASF würde als Chemie-Weltmarktführer eine bessere Chemiekonjunktur in China natürlich positiv spüren.
Erlauben Sie zum Schluss eine Frage zur US-Präsidentschaftswahl im November. Falls Donald Trump gewinnen sollte, was würde das für die Börsen bedeuten in den Jahren seiner zweiten Amtszeit?
Trump war als Präsident sehr positiv für US-Börse und Konjunktur. Das lag stark an der krassen Neuverschuldung des Staates während seiner Regierungszeit. Nie zuvor hatte ein Präsident ausserhalb von Rezessionszeiten die Schulden so deutlich erhöht. Trump interessiert sich noch dazu mehr für Deals als für die Ausweitung aussenpolitischer Macht. Er würde wohl auch nochmals die Steuern senken. Trump wäre daher vermutlich besser für die Börse als Biden.
Jens Ehrhardt
Jens Ehrhardt ist Gründer, Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender von DJE Kapital. Nach fünfjähriger Partnerschaft in der seinerzeit grössten deutschen Wertpapier-Vermögensverwaltungs-Gesellschaft promovierte er 1974 über «Kursbestimmungsfaktoren am Aktienmarkt». Im selben Jahr legte er den Grundstein für den Aufbau seiner Unternehmensgruppe, die er von Beginn an leitet. Ehrhardt verantwortet neben seiner Rolle als Vorstandsvorsitzender noch die Bereiche Risikomanagement und Unternehmens-/Anlagestrategie.