Die Länder sind in politischen Sachfragen zersplittert. Wie kann Europa zu neuem Sinn und alter Form finden? Darüber diskutierten Expertinnen und Experten an der Falkenstrasse.
Europa ringt in einer Welt eskalierender Krisen darum, seine alte Form zu wahren. Russland führt Krieg, Autokraten stellen sich quer, die Energiefrage spaltet, die nächste Finanzkrise droht. «Wir müssen uns im Klaren sein, dass unser Europa sterben könnte», warnte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Ende April und rief zu einer verstärkten Verteidigung gegen globale Rivalen wie Russland auf.
Über die Frage, wie Europa zu neuem Sinn finden kann, diskutierten Expertinnen und Experten am Mittwochabend auf dem NZZ Podium: Osteuropahistoriker Oliver Schmitt, Claudia Major, Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik, und der Politologe sowie Historiker Joseph de Weck. Moderiert wurde das Podium von Daniel Fritzsche, Ressortleiter der NZZ.
Osteuropahistoriker Oliver Schmitt zeigte im Impulsreferat auf, wie sich über die vergangenen Jahrzehnte mehrfache Bruchlinien durch die europäischen Länder zogen und sich die geografischen Achsen Nord, Süd, Ost, West in kürzester Zeit veränderten. Je nachdem, wie Staaten eine politische Fragestellung beantworteten, standen sie mal auf dieser, mal auf einer anderen Seite: Migrationskrise, Euro-Krise, der russische Krieg gegen die Ukraine.
Die Zersplitterung sei so vielfältig, dass keine klare politische Linie erkennbar sei, sagte Schmitt. Und das habe etwas Gutes, denn sie sei auch wechselhaft. Dass es aber so leicht sei, Gräben aufzureissen, sei eine Schwäche von Europa. Grund dafür sei die fehlende Bildung über die politischen Systeme der Nachbarstaaten. Es fehle ein gemeinsames Nachdenken darüber, was Europa überhaupt definiere.
Ein gemeinsames Ziel
Emmanuel Macron schlägt einen gemeinsamen europäischen Fonds vor, der die Verteidigung der Ukraine langfristig finanzieren kann. Die Idee wurde auf dem Podium begrüsst. Die Stärke des Vorschlags sei das gemeinsame europäische Vorhaben, sagte Politologe Joseph de Weck. Statt dass jedes Land für sich schaue, wie es die Ukraine unterstützen könne, brauche es ein gesamthaftes Vorgehen.
Die Ukraine brauche gemeinsame Ziele und gemeinsame Mittel, um diese zu finanzieren, erklärte de Weck. Damit die Ukraine verteidigt werden könne, müsse man auf europäischer Ebene investieren. Die Unterstützung lasse sich nicht ohne zusätzliche Ausgaben stemmen.
Die Politikwissenschafterin Claudia Major sprach in Anlehnung an den deutschen Kanzler Scholz von einer «mentalen Zeitenwende», die es nun brauche. Die europäischen Länder müssten anerkennen, dass sie sich nicht mehr in einer kooperativen Friedensordnung befänden. Russland nutze nukleare Abschreckung, um Grenzen zu verschieben, und schreibe damit die Regeln Europas neu. Momentan deute vieles darauf hin, dass Russland den Krieg gewinne. Denn die europäischen Länder schätzten ihn nur als wichtig, aber nicht als existenziell ein. Werde Russland in der Ukraine nicht gestoppt, könnte es bald vor den Grenzen zur Nato stehen, sagte Major.
Fehlende Führung
Die Zeitenwende bedeute ein generelles Umdenken, sagte Major weiter: «Wie können wir unsere Lieferketten besser sichern? Wie gehen wir mit Propaganda und Fake-News um? Wie können wir unsere Energieversorgung diversifizieren? Wie können wir unser Überleben sichern?»
Was fehle, sei aber eine Führung, sagte Major. Deutschland und Frankreich fühlten sich beide durch den Krieg in der Ukraine in ihren gegensätzlichen Positionen bestätigt. Für Frankreich habe sich durch den Krieg Russlands gezeigt, dass Europa souverän werden müsse. Gleichzeitig habe sich für Deutschland bestätigt, dass Europa es nicht ohne die USA schaffen würde. «Es gibt keine europäische Vision», sagte Major. Solange sich Deutschland und Frankreich nicht zusammenrauften, passiere zu wenig zu langsam.
Etwas Hoffnung wurde aber auf dem Podium doch noch geschürt: Es sei bemerkenswert, dass die Leute nicht anstünden, um nach Russland oder Nordkorea einzuwandern, sondern nach Europa, sagte Major. Freiheit, Humanismus, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand, das seien Werte, für die Europa stehe. «Viele Landsleute verteidigen die Ukraine, weil sie lieber in einem freien, rechtsstaatlichen Land leben wollen als unter russischer Besatzung. Eigentlich ist es gar nicht so kompliziert», sagte Major.