Dienstag, Oktober 8


Gartenbesuch

Essen, spazieren, ausruhen: Auf dem Rooftop des Luxuskaufhauses Ginza Six kann man dies, und zwar inmitten eines stilisierten Waldes mit grandioser Aussicht über die Millionenmetropole.

Es ist angenehm kühl hier oben auf dem Dach des Luxuskaufhauses Ginza Six. Die Kronen zierlicher Bäume tauchen diesen Teil der Bank sanft in Schatten. Das Sitzmöbel ist stilvoll auf das Wesentliche reduziert, eine anatomisch geformte Sitzfläche aus Holzlamellen, gehalten von Edelstahl. Dicht bewachsene Beete umgeben die Bank. Man sitzt wie in einen luxuriösen Mantel aus Pflanzen gehüllt. Sträucher und Stauden wachsen direkt bis an den Sitz. Es ist ein Ort der Ruhe. Und dann ist da noch die Aussicht über Tokio. Man sitzt und blickt auf die Dächer der grössten Metropolregion der Welt. Hinter einer blankpolierten Glasscheibe füllt diese unendlich faszinierende Stadt das gesamte Blickfeld – bis hinter den Horizont.

Trotzdem kommen die meisten Besucher weder wegen der Pflanzen noch wegen des Ausblicks, sondern zum Shopping ins Ginza Six, einen gediegenen Einkaufskomplex. Der Stadtteil Ginza ist bereits seit Jahrzehnten Zentrum luxuriöser Marken. In einem Bezirk, in dem sich extravagante Flagshipstores zu Dutzenden aneinanderreihen, ist Ginza Six als Neuzugang nun für viele der Höhepunkt. In der Mitte eines riesigen Atriums im Zentrum des Gebäudes schweben derzeit Katzen wie im Weltraum. «Big Cat Bang» heisst die fröhlich und zugleich dystopisch wirkende Skulptur des in Japan gefeierten Künstlers Kenji Yanobe.

Und ganz zuoberst: Ruhe

All das ist interessant, gar aufregend. Irgendwann ist man jedoch erschöpft und hungrig und dankbar, dass der Lift lautlos bis in den Dachgarten fährt. Schon am Eingang filtert dichtes Laub die Sonne, und hinter der nächsten Ecke ist man dann ganz im Grünen. Unter Kirschbäumen stehen Kamelien, Azaleen und Funkien.

Dazwischen fallen die grossen Blätter einer niedrig wachsenden Pflanze auf. Europäische Garteninteressierte werden die an altmodische Traktorsitze erinnernden Blätter zunächst für den bei uns beliebten Japanischen Goldkolben Ligularia dentata halten. Nur die Ränder passen nicht, wie grob mit der Schere ausgeschnitten sehen sie aus. Es ist Farfugium japonicum, eine in Europa weitgehend unbekannte, ebenfalls hier heimische Blattschmuckstaude, die man in den gemässigten Regionen Japans oft wild findet.

In einem Land, in dem es verpönt ist, auf der Strasse zu essen, sorgt der Dachgarten des Ginza Six für eine willkommene Alternative zu den vielen Restaurants und Cafés im Trubel dort unten. Hier kann man sich mit einer Bentobox voller Leckereien ein ruhiges Plätzchen suchen. Schwindelfreie sitzen auf einer schmalen Sitzbank direkt an den Panoramaglasscheiben mit besonders spektakulärem Ausblick. Für alle anderen bieten sich immer wieder Sitzgelegenheiten, während man durch den Garten geht.

Dieser hat keine traditionelle Form, sondern duckt sich in einen schmalen Streifen entlang eines Weges, der um den gesamten Gebäuderand führt. Aus den dicht bepflanzten Beeten ragen zahlreiche Bäume. Es fühlt sich so an, als spaziere man an einem stilisierten Waldrand entlang. Auch hier fallen in Japan beheimatete Arten auf. Im Herbst lässt sich eine von ihnen sogar mit geschlossenen Augen erkennen. Die Blätter des Cercidiphyllum japonicum, auf Deutsch sehr bezeichnend «Japanischer Kuchenbaum» oder «Lebkuchenbaum» genannt, verströmen kurz vor ihrem Fall einen wunderbar süsslichen Duft.

Wer von weit her kommt, wird die Bepflanzung auf dem Dach des Ginza Six als interessant und variantenreich wahrnehmen. Einheimische, vor allem diejenigen, die auf dem Land aufgewachsen sind, fühlen sich vielleicht für einen Moment an den Fuss der zahllosen dicht bewaldeten und weitgehend unzugänglichen Berge Japans versetzt. Jäh treffen dort die erdbebenresistenten Betonbefestigungen der Siedlungen auf Wildnis. Solch grüne Berge gibt es auch dort, wo das gigantische Betonmeer Tokios endet. Man kann sie nicht sehen von hier, aber erahnen.

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