Dienstag, Oktober 22

Selbstorganisiertes Lernen gilt der zeitgenössischen Pädagogik als eine Schlüsselkompetenz. Ihre Vermittlung fällt der Schule jedoch schwer – was an den Kindern, aber auch dem Lehrpersonal liegt.

Wochenpläne für Schülerinnen und Schüler gehören heute in der Primarschule zum Alltag. Darin tragen die Kinder ihre Lernziele ein, teilen den dafür notwendigen Aufwand richtig ein, beginnen eigenständig mit den Recherchen und beurteilen zuletzt selbst, ob sie erfolgreich waren oder nicht.

Wochenpläne, möglichst individuell angepasst und selbständig erstellt, sind heute ein wichtiger Baustein im selbstorganisierten Unterricht. Schon früh sollen die Kinder so ihren Lernprozess aktiv mitgestalten.

Was so einfach und strukturiert tönt, scheitert indessen oft an der kindlichen Realität. Viele Schülerinnen und Schüler sind überfordert. Sie verzetteln sich, sind verwirrt oder wissen schlicht nicht, was von ihnen verlangt wird. Was folgt, sind Tränen, Chaos und Überforderung.

Das Problem: Die wenigsten Kinder verfügen in diesem Alter über das Rüstzeug für einen selbstorganisierten Unterricht wie Lernateliers, in denen die Schüler an individuellen Aufträgen arbeiten, Lernlandschaften mit Lernateliers und Gruppenräumen, Werkstattunterricht oder Projektarbeiten. «Um darin erfolgreich zu sein, müssen die Kinder zuerst die Fähigkeiten für das selbstregulierte Lernen erworben haben», sagt Yves Karlen, Erziehungswissenschafter an der Universität Zürich.

Karlen erforscht das Thema selbstreguliertes Lernen und seine Bedeutung für die Pädagogik seit fast fünfzehn Jahren. An der Fachhochschule Nordwestschweiz, wo er bis vor einem Jahr tätig war, hat er in Zusammenarbeit mit Modellschulen und Lehrpersonen die Förderung des selbstregulierten Lernens umgesetzt und evaluiert.

Lernstrategien und Durchhaltewillen

Selbstreguliertes Lernen erfordert gemäss Definition vom Lernenden drei grundlegende Fähigkeiten: Erstens geeignete Lernstrategien kennen, etwa ein Aufgabenheft, Karteikärtchen fürs Wörterlernen, eine Mind-Map in Projektarbeiten, aber auch althergebrachte Methoden wie eine Zusammenfassung oder einen Aufsatz schreiben oder auch einmal etwas auswendig lernen. Zweitens die Motivationsfähigkeit: Nur wer den nötigen Biss mitbringt und auch einen Durchhaltewillen bei Widerständen zeigt, kann erfolgreich sein. Drittens sind sogenannte metakognitive Fähigkeiten wie Planungsfähigkeit, aber auch die Selbstbeobachtung und Reflexion des eigenen Lernprozesses entscheidend.

Laut Yves Karlen haben Menschen, die ihren Lernprozess selbst regulieren können, ihr ganzes Leben lang Vorteile. «Lernende mit besseren Lernstrategien, die sie intelligent kombinieren, erbringen bessere Schulleistungen.» Das zeige sich auf allen Schulstufen, vom Kindergarten über die Primarschule bis zur Universität.

Untersuchungen haben gezeigt, dass Studierende, die diese Techniken nicht beherrschen, mehr Studienabbrüche, schlechtere Noten, eine längere Studiendauer und mehr Stress haben. Die Kompetenzen im selbstregulierten Lernen sind für den Lernerfolg sogar wichtiger als andere Einflussfaktoren wie die Intelligenz oder der sozioökonomische Hintergrund der Kinder.

Meister des eigenen Lernens

Die Idee ist nicht neu. Bereits vor über 100 Jahren experimentierten erste Reformschulen in den USA mit individualisierten Methoden. Damals schon kritisierten fortschrittliche Pädagogen, dass das gleichgeschaltete Lernen in Jahrgangsklassen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder nicht entspricht.

In den reformfreudigen 1960er und 1970er Jahren gaben neue Erkenntnisse der Lernpsychologie und der Neurowissenschaften dem Ansatz zusätzlichen Auftrieb. Dabei ist allen Methoden gemeinsam, dass der Lernende fortan nicht mehr nur als ein Gefäss verstanden wird, in das Wissen eingefüllt wird. Schülerinnen und Schüler sind nun aktive Teilnehmer an ihrem Lernprozess und werden zu «Meistern ihres eigenen Lernens».

Doch das sind Herausforderungen, an denen in der Realität selbst Mittelschüler oft scheitern. «Vor einigen Jahren führten Gymnasien im Kanton Zürich einen Versuch mit verschiedenen Formaten des selbstorgansierten Lernens durch, in denen die Schülerinnen und Schüler autonom arbeiten sollten», erzählt Yves Karlen. Die Hoffnung war, dass die Lernenden dabei nicht nur Wissen aneignen, sondern auch Kompetenzen im Lernen erwerben, die ihnen für das ganze Leben nützlich sein würden. «Der Versuch scheiterte», sagt Karlen. «Die Lernenden erreichten teilweise ihre Lernziele nicht und am Ende waren alle enttäuscht, sowohl die Schülerinnen und Schüler wie auch die Lehrpersonen.»

Gescheiterter Modellversuch

Das Pilotprojekt zeigte die Schwachpunkte des selbstorganisierten Lernens auf, wie es damals praktiziert wurde: Die Schülerinnen und Schüler wurden zu sehr alleingelassen. «Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass in diesem Bereich auch bei den Lehrpersonen ein Nachholbedarf an Wissen besteht. Sie kennen das Konzept des selbstregulierten Lernens zu wenig und auch viele Missverständnisse sind weit verbreitet», sagt Yves Karlen.

So glauben viele Lehrpersonen, dass sie in solchen modernen Lernlandschaften und anderen offenen Lernformaten die Verantwortung komplett an die Kinder abgeben müssten oder könnten. «Sie denken fälschlicherweise, dass die Schülerinnen und Schüler das selbstregulierte Lernen dabei automatisch, quasi im Nebenbei, erwerben.»

Lehrpersonen höherer Schulstufen gehen zudem oft von der Annahme aus, dass die Kinder die Techniken schon aus der vorhergehenden Stufe mitbringen und bekunden auch Mühe darin, die entsprechenden Fähigkeiten der Kinder richtig einzuschätzen.

Genau wie die klassischen Wissensinhalte müssen jedoch auch die einzelnen Elemente des selbstregulierten Lernens immer wieder explizit vermittelt und geduldig eingeübt werden. «Die Kinder sollten wissen, was Lernstrategien sind, wann und wie sie diese einsetzen können und wieso sie es tun sollen.» So individuell ein Wochenplan aufgesetzt werden muss, so individuell sollten die Lehrpersonen die einzelnen Schritte mit den Schülerinnen und Schülern einüben.

Sich ein eigenes Lernziel setzen? Vormachen und erklären. Eine Lernstrategie, zum Beispiel ein Lerntagebuch führen? Nicht einfach beauftragen, sondern einüben und kontrollieren. Lerninhalte recherchieren und das Wissen abrufen? Üben, üben, üben. Und auch betreffend Motivation und Durchhaltewillen gibt es Techniken und Strategien, die geübt werden können.

Nachholbedarf bei den Lehrpersonen

In ihrer neusten Studie, die vor kurzem im Fachjournal «Research Papers in Education» veröffentlicht worden ist, haben Yves Karlen und sein Team gezeigt, dass ein guter Unterricht von den eigenen Fähigkeiten der Lehrpersonen im selbstregulierten Lernen abhängt. Je besser eine Lehrerin oder ein Lehrer die Lernstrategien selbst kennt, je mehr Erfahrung sie im selbstregulierten Lernen haben, umso besser vermitteln sie diese Fähigkeiten an ihre Schülerinnen und Schüler und umso erfolgreicher wird ihre Klasse darin.

Deshalb fordert der Erziehungswissenschafter nun, dass diese Fähigkeiten auch in der Ausbildung der Lehrpersonen mehr berücksichtigt werden. Zwar gibt es in einigen Pädagogischen Hochschulen und Universitäten bereits Pflichtmodule für alle angehende Lehrpersonen, doch grösstenteils würden diesen Kompetenzen noch zu wenig Gewicht beigemessen.

«Es ist doch selbstverständlich, dass eine Mathelehrerin oder ein Mathelehrer Mathematik gut beherrscht, um dieses Fach zu vermitteln», sagt Yves Karlen. «Doch bei den Methoden des selbstregulierten Lernens geht man oft davon aus, dass es jeder von allein kann, einfach, weil jeder schon einmal gelernt hat.»

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