Der Verrat ist in der Geschichte der Menschheit allgegenwärtig, von Brutus und Judas bis Edward Snowden.
Verrat ist so alt wie die Geschichte der Menschheit. Das berühmte und unstrittige Beispiel für Verrat im Neuen Testament? Natürlich Judas Iskariot! Ein Jünger verrät seinen Herrn an den Feind, ausgerechnet mit einem Kuss.
Und doch, der erste Fall dieser Art ist es nicht, vielleicht nicht einmal der berühmteste und schon gar nicht der eindeutigste. Für den stehen gleich zu Beginn des Matthäus-Evangeliums die Heiligen Drei Könige. Sie sind im Auftrag des Herodes unterwegs, das Kind zu finden. Doch statt dem Auftraggeber Bericht zu erstatten, verlassen sie Bethlehem und das Evangelium und verschwinden für immer.
Judas gilt als Verräter, die drei Weisen aus dem Morgenland als Heilige. Dabei ist Judas ebenso ein Heiliger wie die drei Weisen Verräter sind. Worin unterscheidet sich der Held vom Bösewicht, der Heilige vom Verräter? Wir müssen näher hinschauen, wenn wir dem Phänomen des Verrats auf die Spur kommen wollen. Judas zum Beispiel hat für sich reklamiert, diesen Jesus in den politischen Widerstand zu drängen. Was wäre gewesen, wenn ich in Gethsemane bei Jesus geblieben wäre? Was wäre aus mir geworden? Was wäre aus uns allen und dem Christentum geworden?
Heiliger oder Bösewicht
Der Schriftsteller Bernhard Schlink sieht im Verrat eine aktive Handlung eines oder mehrerer Akteure, wenn eine Gemeinschaft die entsprechende Handlung entweder moralisch als Vertrauensmissbrauch interpretiert oder als Treuebruch festgeschrieben hat. Der Verräter wird zu einer mehr oder weniger heroischen Figur, aber er kommt immer aus dem Schatten. Wer Verräter verstehen will, muss die Dunkelheit mögen, die Tiefen des Satans verstehen, sagt der Journalist Mathias Schreiber und geht der alten Sache auf den Grund.
Auf dem Grund finden wir den Störenfried, den «Puer Robustus», von dem der Philosoph Dieter Thomä sagt, er sei notwendig für eine Gesellschaft, bevor sie gegen die Wand fährt, Kriege anzettelt, die Daten ihrer Bürger sammelt oder sich dem Terror verschreibt.
Wann wird der Verräter zum Heiligen und wann zum Bösewicht? Wann fordert das Gewissen uns auf, ein Verräter zu sein? Am Hals des Judas hängen die dreissig Silberlinge wie ein Mühlstein und später der Strick. Hat die Desinformationspolitik der Römer aus dem Mann eine käufliche Seele gemacht?
Historisch gesehen waren im 20. Jahrhundert Behauptungen wie die Legende vom Dolchstoss, vom inneren Verrat an Deutschland, die Wurzel für Antisemitismus, Franzosenhass und Nationalsozialismus. Dabei griff Reichspräsident Hindenburg auf eine dem britischen General Frederick Maurice zugeschriebene Aussage zurück, die in einem Artikel in der NZZ im Dezember 1918 wiedergegeben worden war und wie eine besondere Beglaubigung wirkte: «Ein englischer General sagt mit Recht: ‹Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.›»
Die Farbpalette des Verrats reicht vom harmlosen Verpetzen in der Schule über den alltäglichen Seitensprung, von der Dolchstosslegende bis zu einem sich der Macht andienenden Denunzianten. Wir erkennen in der Traditionslinie des Verrats aber auch die Rebellen, die Whistleblower, die Störenfriede, die eine moralische Entscheidung getroffen haben. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist hoch: Landesverräter wurden in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg hingerichtet, Edgar Snowden steckt für lange, wenn nicht für immer, in Russland fest.
Der Kalte Krieg wird heiss
Das Narrativ des Verrats hat die europäische Gesellschaft stark geprägt: gleichgültig, ob aufseiten der Sieger oder der Besiegten, der Amerikaner oder der Russen, die Verräter waren stets Rechtfertigung für den Ausbau des Polizeiapparates oder die innere Aufrüstung der europäischen Seele.
Die Angst vor Verrat hat aus dem Kalten Krieg in Europa wieder einen heissen Krieg gemacht. Nicht nur für Putin ist es der Verräter Michail Gorbatschow, der den Ukraine-Krieg verursacht hat. In den russischen Staatsmedien ist er der Superdenunziant für den ideologischen Niedergang der Sowjetunion und für das Herannahen der Nato. Gorbatschow, der Befreier vom Stalinismus, wird im chinesischen Staatsfernsehen als der Verräter des Jahrhunderts bezeichnet und damit zum Brutus der modernen Geschichte.
Die Phänomenologie der Verräter, von Marcus Brutus’ Mord an Julius Caesar bis zu Günter Guillaumes Hinterlist gegen Willy Brandt, durchzieht ein Motiv, das sie vorschnell zu Helden stilisiert: Es ist der angeblich gute Grund, Schlimmes oder Schlimmeres verhindert zu haben. Aber war der Mörder Marcus Brutus dem Gemeinnutz Roms verpflichtet? Diente Guillaume nicht sich selbst oder dem System des Neo-Stalinismus in der DDR? Ist Snowden jetzt ein Freund Moskaus geworden?
In den 1950er Jahren veröffentlicht der noch unbekannte Philosoph André Gorz einen Romanessay mit dem Titel «Der Verräter». Gorz schildert in einer schonungslosen Selbstanalyse sein Leben als schwächlicher Junge in Österreich. Er findet keinen Platz zwischen dem jüdischen Vater und der katholischen Mutter. Gorz ringt um Anerkennung, fühlt sich in zwei Hälften geteilt, wendet sich den Jungen Nationaldemokraten, später dem Katholizismus zu.
Seine Biografie des Verrats an der jüdischen Identität wird zum Verrat an allem, was deutsch ist. Im Internat in Graubünden gibt er sich als Franzose aus und leugnet die deutsche Sprache. Auf der Suche nach einem Standpunkt entwickelt André Gorz einen nicht unbeträchtlichen Hochmut gegenüber allem Zweifel, unklaren Verhältnissen und gescheiterten Träumen.
Und dennoch, Marx und Freud begleiten den Analytiker Gorz auf der Suche nach den Wurzeln des Verrats, will sagen soziologisch und psychologisch erkundet er die Causa des Verrats, den Charakter des Verräters. Ob Spion oder treuloser Ehemann, ob Judas oder Danton, ob Edgar Snowden oder Julian Assange: Die Wurzel des Verrats liegt seiner Meinung nach in der Einsamkeit des Verräters. Nur entsteht diese nicht mit dem Verrat, sondern sie steht am Anfang seiner Existenz, seines Lebens.
Letztes Mittel gegen Einsamkeit
Gorz diskutiert diese Erkenntnis in einer artistischen Selbst- und Weltanalyse. Nach dem Freitod von André Gorz und seiner Frau Dorine, seinem letzten Verrat am freien Lauf der eigenen Lebensgeschichte, des eigenen Schicksals, erkennen wir, dass im philosophischen Sinne Verrat an Jesus Christus, Verrat am König, an der Demokratie, Verrat an den Herrschenden und auch die Abkehr von einem Gott keine moralische Kategorie von Aufrichtigkeit, sondern das letzte Mittel eines Menschen gegen Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit ist.
André Gorz hat zwanzig Jahre vor seinem Suizid in einer Streitschrift «Abschied vom Proletariat» genommen, weil er nicht mehr glaubte, dass die Arbeiterschaft den Kapitalismus besiegen will. Mit dem Verrat an der marxistischen Idee hat er eine neue Tür aufgestossen, die Erkenntnis über die Grenzen des Wachstums, und damit die Grundlage für eine politische Ökologie gelegt.
Der Verräter als Avantgardist ist mit individueller Einsamkeit, aber auch mit philosophischer Erkenntnis eng verbunden. Dient der Verrat einem demokratischen Gemeinwesen und nicht dem eigenen Ego, so nähert sich der Verräter einem Heiligen an. Mit dem gemeinen Verräter aus Egoismus, dem Spion, den Putschisten, den Karrieristen, all den Daniel Ortegas in Nicaragua, den Yoweri Musevenis in Uganda darf er nicht verwechselt werden.