Geschichte eines aussergewöhnlichen Betrugs.
Für die Ermittler ist Tian Chang (Name geändert) der Boss.
Ende März 2024 gelingt dem 51-jährigen Chinesen zusammen mit zehn Komplizen der grösste bekannte Coup, den die Schweizer Glücksspielszene je gesehen hat. Mit versteckter Technik, etwas Ablenkung und einem simplen Trick schaffen es die Betrüger, das Kasino im ehrwürdigen Zürcher «Ober»-Haus direkt an der Sihl um exakt 143 485 Franken zu prellen.
Der Direktor des Kasinos wird später von einem einzigartigen Ereignis sprechen. Und bei den Ermittlern macht der Fall schon bald unter dem Namen «Chinese Eleven» die Runde. Weil die Chinesen zu elft sind und weil die Aktion an den Hollywood-Klassiker «Ocean’s Eleven» erinnert, in dem die Schauspielstars Julia Roberts, Brad Pitt und George Clooney einen raffinierten Kasino-Coup inszenieren.
Doch Tian Chang und seine Betrügerbande sind keine glamourösen Profi-Gauner, sondern geschickte Amateure aus bescheidenen Verhältnissen, die am Ende an der eigenen Gier scheitern.
Der abwesende Beschuldigte
Am Donnerstagnachmittag, rund zehn Monate nach der aufsehenerregenden Aktion, wird der Fall des mutmasslichen Strippenziehers vor dem Bezirksgericht in Zürich verhandelt.
Doch Tian Chang ist nicht im Saal, für den Prozess ist er vom Gericht dispensiert worden. Laut seinem Anwalt ist Chang hoch verschuldet. Nach dreieinhalb Monaten in Untersuchungshaft sei er deshalb im vergangenen Sommer zurück nach China gereist, um seine finanziellen Probleme zu lösen.
Probleme, die seit dem missglückten Kasino-Plan nicht kleiner geworden sind.
Der Coup von Zürich beginnt Ende März 2024. Tian Chang und seine Komplizinnen und Komplizen fahren aus Norditalien über den Grenzübergang in Chiasso nach Zürich. Die Männer und Frauen kennen sich wohl nur flüchtig, doch viele von ihnen haben eine Gemeinsamkeit: Sie arbeiten in einer der vielen Textilfabriken rund um die norditalienische Stadt Prato.
Die Stadt mit ihren knapp zweihunderttausend Einwohnerinnen und Einwohnern ist das grösste Textilzentrum des Kontinents – und eine Hochburg der Fast Fashion aus chinesischer Hand. Über viertausend chinesische Bekleidungsunternehmen mit rund dreissigtausend Angestellten zählt die Provinz Prato laut Behördenangaben. Hier spricht sich unter Mitgliedern der chinesischen Gemeinschaft offenbar der Trick herum, wie man Glücksspielhäuser ausnehmen könnte.
In Zürich angekommen, quartieren sie sich in Hotels ein, Chang einmal auch in einem 3-Sterne-Haus. An der Réception weist er sich mit dem Pass seines Bruders aus, der ihm ähnlich sieht. Es gelingt. Die Angestellten des Hotels schöpfen keinen Verdacht.
Für den Plan braucht es zwei Gruppen: die Späher und die Spieler. Und es braucht ein besonderes Spiel: Punto Banco.
Punto Banco ist eine Abwandlung des Kartenspiels Baccarat. Ziel des Spiels ist es, mit zwei oder maximal drei Karten neun Punkte zu erzielen oder zumindest näher an neun Punkte heranzukommen als der Gegner. Zu Beginn einer Partie werden die Karten vom Croupier gemischt und von einem Spieler mit einer Karte «coupiert», also in zwei Kartenstapel geteilt.
Genau dies macht sich die Bande um Tian Chang zunutze. Der Trick, den sie anwenden, ist in der Glücksspielszene seit Jahren bekannt. Im Internet sind sogar Anleitungen und Videos über die Masche zu finden. Sie brauchen dafür nicht viel mehr als ein unauffällig mit einer zusätzlichen Kamera ausgerüstetes Smartphone, Ablenkung und etwas Geschick.
Woher das Smartphone kommt, ist unklar. Aber offenbar wurde es schon bei einem früheren Betrug in Paris verwendet. Die Ermittler können später eine bereits gelöschte Filmsequenz wiederherstellen. Wer den Film gemacht hat, bleibt jedoch unklar.
Der Trick mit der Schneidekarte
Kurz vor Mitternacht am 25. März 2024 starten die Betrüger einen ersten Testlauf. Rund dreissig Minuten vor dem Spiel setzt sich Tian Chang zusammen mit einem Komplizen ein erstes Mal an den Spieltisch. Als der Croupier den Kartenstapel vor Chang hinstellt, damit dieser wie im Spiel vorgesehen mit einer schwarzen Schneidekarte den Schnitt vornehmen kann, lenkt eine Komplizin – Changs Freundin – für einen kurzen Augenblick die Aufmerksamkeit des Croupiers auf sich.
Das genügt Chang, um mit der Schneidekarte über den Kartenstapel zu fahren und die Karten mit dem Daumen so minimal aufzufächern, dass die Ecken für die Kamera am präparierten Telefon kurz sichtbar werden. Der Croupier am Spieltisch bemerkt nichts. Chang tut nach dem Schnitt mit der Schneidekarte so, als schriebe er eine SMS.
Daraufhin verlassen er und ein weiterer Komplize das Kasino. Draussen setzen sie sich in den in der Nähe parkierten Wagen von Chang. Zu zweit schauen sie sich die heimlich gemachten Aufnahmen an und merken sich die Reihenfolge der Karten. Dann kehren sie ins Kasino zurück. Für den Komplizen ist es das Zeichen, sich zusammen mit Chang an den Spieltisch zu begeben – und auf das Signal zu warten.
Das Signal: Setzt der Boss einen hohen Betrag, müssen auch die anderen auf das gleiche Feld setzen.
Chang setzt sich an den Spieltisch. Um 0 Uhr 18 setzt er. Und sein Komplize zieht mit. Es gelingt. Sie erzielen einen Gewinn von je 2000 Franken.
Am nächsten Tag sind Chang und seine Komplizen wieder im Kasino. Und dieses Mal sind die gesetzten Beträge höher – und die Gewinne auch. Rund 140 000 Franken gewinnen sie in dieser Märznacht.
Doch in dieser Nacht werden auch die Verantwortlichen des Zürcher Kasinos misstrauisch. Sie analysieren Aufnahmen aus der Videoüberwachung und merken bald: Das Kasino wird ausgenommen.
Als die Chinesen am Abend des 27. März ein drittes Mal spielen und betrügen wollen, ist es vorbei. Tian Chang filmt wie immer die Karten mit dem präparierten Mobiltelefon, wie immer kehrt er mit der Reihenfolge der Karten im Kopf vom Parkplatz zurück. Doch als er sich mit den Komplizen wieder an den Spieltisch setzen will, werden sie abgeführt und verhaftet.
Über drei Monate sitzt Chang daraufhin in Untersuchungshaft. Schliesslich gesteht er die Tat.
Komplizen müssen Grossteil des Gewinns abliefern
Für die Ermittler ist Tian Chang der Kopf der Bande. In der Anklage hält der Staatsanwalt fest, der 51-Jährige habe die Spielkarten gefilmt und sich die Reihenfolge gemerkt. Im Gegenzug hätten sich seine Komplizen bereit erklärt, bis zu 70 Prozent ihres Gewinns an Chang abzugeben. Der Staatsanwalt fordert eine bedingte Freiheitsstrafe von 12 Monaten.
Der Verteidiger von Chang bestreitet die Vorwürfe nicht. Es sei seinem Mandanten und den Mitbeschuldigten gelungen, in kurzer Zeit hohe Beträge zu ergaunern. Allerdings habe es das Kasino den Chinesen auch nicht allzu schwergemacht.
Der Kopf und Organisator der Bande sei Chang aber nicht gewesen. Es sei ein zusammengewürfelter Haufen gewesen, der sich relativ spontan zusammengefunden habe. «Er war nicht Anführer einer Gruppe. Es hat sich aber herumgesprochen, dass er einen Coup plant, weshalb sich andere ihm anschlossen.» Indem er gefilmt habe, habe er das grösste Risiko auf sich genommen. «Die anderen waren Trittbrettfahrer, die von ihm profitieren wollten.»
Der Verteidiger hält deshalb eine bedingte Freiheitsstrafe von acht Monaten für angemessen.
Doch damit dringt der Verteidiger nicht durch. Der Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich spricht den 51-jährigen Chinesen wegen Betrug, versuchten Betrugs und Fälschung von Ausweisen schuldig. Chang erhält eine bedingte Freiheitsstrafe von elf Monaten.
Der Richter sagt bei der kurzen Urteilsbegründung, Chang habe bei der Aktion eine zentrale Rolle gespielt. «Er filmte mit dem präparierten Smartphone, er sprach sich mit Komplizen ab und organisierte den Betrug.» Die kriminelle Energie sei dabei nicht unerheblich gewesen. Man habe geplant, so viel Geld wie möglich abzuziehen.
Changs Komplizen sind inzwischen per Strafbefehl verurteilt worden. Sie erhielten bedingte Freiheitsstrafen zwischen drei und fünf Monaten.
Die Hälfte des Geldes ist zurück
Einen Teil des Geldes hat das Kasino inzwischen zurückerhalten. Der Direktor Marcus Jost sagt, man habe bisher 43 000 Franken bekommen. Mit dem Urteil gegen Tian Chang kann Jost zudem mit weiteren 30 000 Franken rechnen. Denn das Geld war Ende März 2024 bei der Verhaftung der Betrüger beschlagnahmt worden.
Punto Blanco wird in Zürich weiterhin gespielt. Doch seit dem Coup der elf Chinesen werden die Karten nicht mehr von Hand, sondern von einer Maschine gemischt. Die Automatisierung – sie soll den Betrug künftig verhindern. Jost sagt, einen neuen Betrugsversuch habe es seither nicht gegeben.
Urteil GG 240 220 vom 6. 2. 2025, noch nicht rechtskräftig.