Freitag, Dezember 27

Warum löst Ungleichheit so negative Gefühle aus? Der Zürcher Professor Ernst Fehr erforscht das menschliche Streben nach Fairness. Er teilt die Leute in drei Kategorien ein.

Herr Fehr, sobald es um die soziale Gerechtigkeit geht, reagieren die Menschen sehr emotional. Ein aktuelles Beispiel ist die Debatte um die Altersrente. Warum sind Fairness und Gleichheit so bedeutsam für uns?

Das hat mit unserer evolutionären Geschichte zu tun. Während Tausenden von Jahren haben die Menschen als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen gelebt. Diese Struktur war extrem egalitär. Die Nahrung wurde praktisch immer geteilt. Schon damals gab es so etwas wie eine informelle Krankenversicherung. Während die Tiere ein verletztes Individuum zurücklassen, haben die Menschen dieses ebenfalls durchgefüttert.

Doch dann wurde der Mensch sesshaft, und die Ungleichheit nahm sprunghaft zu.

Ja, mit der Entstehung der Landwirtschaft konnte man Land, Ernteerträge oder Tiere besitzen. Seither leben wir in einem Spannungsfeld zwischen unserem egalitären Erbe und der Existenz privater Eigentumsrechte, welche zu Ungleichheit führt. Ob jemand arm oder reich wird, ist einerseits von seinem Fleiss und Talent abhängig. Gleichzeitig aber spielt auch das Glück eine wichtige Rolle.

Ihre Forschung zeigt, dass das Bedürfnis nach Gleichheit bis heute stark in den Menschen verankert ist. Wie sind Sie zu dieser Erkenntnis gekommen?

Wir wollten die Leute nicht einfach danach befragen, was sie denken. Stattdessen haben wir ihre sozialen Motive anhand des effektiven Verhaltens gemessen. Wir haben ihnen Geldbeträge gegeben, die sie dann nach ihren Vorstellungen aufteilen konnten: Sind sie bereit, zu teilen, oder behalten sie alles für sich? Aufgrund dieser Muster konnten wir die Leute klassifizieren. Ebenso konnten wir prüfen, ob ihre Einstellungen das Verhalten bei Volksabstimmungen beeinflussen, bei denen es genau um solche Verteilungsfragen geht.

Mit welchem Ergebnis?

Bei vielen Volksentscheiden fällt es schwer, das Abstimmungsverhalten der Leute nur mit kurzfristigem Eigennutz zu erklären. Nehmen wir die Initiative für eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 40 Stunden oder jene für sechs Wochen Ferien. Beide wurden deutlich abgelehnt, obwohl prima vista eine Mehrheit davon profitiert hätte. Daraus können wir erkennen, dass viele Menschen Argumente wie das Gemeinwohl und die langfristige Entwicklung des Landes über die eigenen kurzfristigen Vorteile stellen.

Der Eigennutz beeinflusst die Leute viel weniger, als man dies erwarten könnte?

Tatsächlich war es für unser Team überraschend, festzustellen, dass bei einem Grossteil der Schweizer Bevölkerung der Eigennutz durch starke soziale Motive eingeschränkt wird. Konkret hat unsere repräsentative Untersuchung ergeben, dass sich die Menschen gemäss ihren sozialen Präferenzen in drei verschiedene Gruppen einteilen lassen.

Nämlich?

Da sind zunächst einmal die Altruisten, die in unserer Stichprobe ungefähr 35 Prozent ausmachen. Eine altruistische Person ist bereit, eigene Ressourcen dafür aufzuwenden, um anderen, denen es schlechter geht, zu helfen. Diese Unterstützung kann finanzieller Art sein, etwa mittels höherer Steuern, oder auch durch den Einsatz der eigenen Zeit.

Wofür steht die zweite Gruppe?

Diese zeichnet sich durch Ungleichheitsaversion aus und macht etwa 45 Prozent unserer Stichprobe aus. Wie bei den Altruisten haben diese Leute den Wunsch, Benachteiligten zu helfen. Hinzu kommt hier aber eine zweite Komponente: Das ist die Bereitschaft, auf eigenen Wohlstand zu verzichten, um die Einkommensvorteile der Reicheren zu reduzieren. Sie nehmen also gewisse gesamtwirtschaftliche Einbussen, etwa ein tieferes Wachstum, in Kauf, wenn sie dadurch mehr Gleichheit herbeiführen können.

Und die dritte Gruppe besteht dann aus den Egoisten?

Da muss man sehr präzise sein: Wir Menschen haben alle einen egoistischen Wesenszug: Praktisch jeder findet es positiv, wenn er mehr verdienen kann. Der Unterschied besteht darin, dass wir bei dieser Gruppe, die rund 20 bis 25 Prozent umfasst, kaum soziale Motive wie Altruismus oder Ungleichheitsaversion feststellen können, welche das egoistische Verhalten beschränken.

Das Bild, dass die meisten Leute primär den eigenen Vorteil maximieren, ist also falsch und trifft nur auf eine Minderheit zu?

Ja, nach unseren Daten macht die Gruppe jener Menschen, die nach rein egoistischen Prinzipien handeln, maximal ein Viertel aus. Wir bezeichnen diese Gruppe auch als primär egoistisch. Somit kann man durchaus festhalten, dass der Egoismus der Leute gemeinhin überschätzt wird. Auch beim Abstimmungsverhalten in der Schweiz sehen wir, dass dieses von Verantwortungsbewusstsein geprägt ist. Die meisten kümmern sich um das Gemeinwesen und wollen beispielsweise verhindern, dass die Staatsfinanzen aus dem Lot geraten.

Pionier der Verhaltensökonomie

Ernst Fehr, Universität Zürich

In den Rankings der einflussreichsten Ökonomen im deutschsprachigen Raum steht Ernst Fehr seit Jahren an der Spitze. Der österreichisch-schweizerische Doppelbürger ist seit 1994 Professor an der Universität Zürich. Seit 2012 leitet er zudem das UBS Center for Economics in Society. Die Fakultät gilt in Bezug auf die Forschungsleistung mit Abstand als führend im deutschsprachigen Gebiet. Seine wissenschaftlichen Meriten verdiente sich der 68-jährige Fehr mit seiner Forschung zur Verhaltensökonomie. Die am häufigsten zitierte Publikation trägt den Titel «Eine Theorie der Fairness, des Wettbewerbs und der Kooperation». (sal.)

Warum sind manche Menschen primär egoistisch, andere dagegen nicht?

Aus der Forschung wissen wir noch relativ wenig darüber, warum ein Mensch eher von sozialen oder egoistischen Motiven getrieben ist. Vermutlich hat dies viel mit der Erziehung und der Zuwendung zu tun, die eine Person erhält. Ebenso könnte es sein, dass die Schulnoten eine Rolle spielen: Wer systematisch schlechte Noten hat, muss befürchten, später im Leben weniger erfolgreich zu sein, und neigt deshalb eher zu Ungleichheitsaversion.

Egoist klingt sehr negativ. Ist jemand mit solchen Motiven ein schlechterer Mensch?

Natürlich sind egoistische Menschen nicht per se schlechter. Entscheidend ist, welche Konsequenzen das eigene Verhalten für andere hat. Ist jemand ein Egoist, aber gleichzeitig ein erfolgreicher Unternehmer, der viele Arbeitsplätze schafft, so kann er einen grossen Nutzen für die Gesellschaft stiften. Nehmen wir etwa Bill Gates und Steve Jobs: Im Gegensatz zu Gates ist Jobs nicht dafür bekannt, dass er sein Vermögen für gemeinnützige Zwecke gespendet hätte. Trotzdem war sein Wirken für die Allgemeinheit sehr wertvoll.

Kommen wir zurück auf das Abstimmungsverhalten: Der 13. AHV-Rente haben wohl viele Stimmbürger aus eigennützigen Motiven zugestimmt, um mehr Geld zu bekommen. Widerspricht das nicht Ihrer Analyse, wonach nur eine Minderheit auf den eigenen Vorteil bedacht ist?

Zunächst muss man sagen, dass die Initiative für eine 13. Rente sehr geschickt konzipiert war – die Ökonomie nennt dies «Framing»: Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir 13 Monatslöhne bekommen. Somit liegt es nahe, den Rentnern ebenfalls 13 Gehälter auszuzahlen. Zudem war es ein kluger Schachzug, dass die Initiative die Finanzierung komplett offengelassen hat.

2016 haben die Stimmbürger eine ähnliche Initiative für höhere Renten abgelehnt. Findet ein Mentalitätswandel statt?

Ich denke nicht, dass man aufgrund einer Abstimmung solche Schlüsse ziehen kann. Wichtig scheint mir ebenso, dass das Parlament bei der Initiative für eine 13. AHV-Rente keinen Gegenvorschlag erarbeitet hat. Aus bürgerlicher Sicht war das rückblickend wohl ein Fehler. Ich denke, eine abgeschwächte Variante mit weniger Ausgaben nach dem Giesskannenprinzip hätte beim Volk gute Chancen gehabt.

Wenn die Menschen gemäss Ihrer Forschung eine grosse Abneigung gegen Ungleichheit haben: Wie erklären Sie es, dass trotzdem zahlreiche Vorlagen, die mehr Umverteilung verlangen, an der Urne scheitern?

Ein gutes Beispiel ist die 1:12-Initiative, welche die Chefgehälter auf das Zwölffache der minimalen Löhne in einer Firma beschränken wollte: Diese erhielt nur wenig Zustimmung. Zwar bewerten die Menschen Gleichheit in der Regel positiv. Die Frage aber lautet: Wie hoch sind die Kosten, die daraus entstehen? Wenn die Schweizer Wirtschaft darunter leidet, so schadet das auch der Allgemeinheit. Je höher die gesamtwirtschaftlichen Kosten der Umverteilung, desto geringer wird im Allgemeinen die Zustimmung sein.

Diese Präferenz der Menschen für Fairness: Auf welchen anderen Gebieten lässt sie sich feststellen?

Da gibt es ganz viele Lebensbereiche: Sie beeinflusst beispielsweise die Bereitschaft, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen. Ebenso steuert die Einkommensverteilung in einem Unternehmen die Kooperationsbereitschaft der Mitarbeitenden. Wir wissen, dass ungleiche Bezahlung bei ähnlicher Arbeit extreme Gefühle der Ungerechtigkeit auslöst. Eine faire Bezahlung im Vergleich zu den Kollegen im Team hat mehr Einfluss auf die Zufriedenheit als die absolute Lohnhöhe.

Gibt es so etwas wie ein optimales Mass an Gleichheit?

Das ist je nach Gesellschaft sehr unterschiedlich. In den USA zum Beispiel duldet das politische System viel mehr Ungleichheit als in der Schweiz. Das hat meiner Ansicht nach auch mit der direkten Demokratie zu tun, welche bei uns als Korrektiv funktioniert. Die Präferenzen der Bürger können sich auf diese Weise besser durchsetzen.

In den westlichen Ländern entsteht eine zunehmende Unzufriedenheit mit dem politischen System. Sehen Sie die Gefahr, dass einzelne Gesellschaften auf einen Kipppunkt zusteuern und der Sinn für das Gemeinwohl verlorengeht?

Der Aufstieg von Donald Trump hat wesentlich damit zu tun, dass sich ein grosser Teil der Bevölkerung von der Politik nicht mehr ernst genommen fühlt. Ein Grund liegt im Abbau der Handelsschranken mit China, der zum Verlust vieler Arbeitsplätze geführt hat. Wegen der verbreiteten Angst, sozial abzusteigen, haben viele Leute Trump gewählt. Solche Liberalisierungsschritte sollte man daher sozial abfedern, damit die Betroffenen genügend Zeit erhalten, um sich anzupassen.

Auch in Europa gewinnen Politiker mit autokratischen Rezepten an Popularität. Diese versprechen den Wählern, dass sie mehr Fairness und Gleichheit von oben verordnen können.

Ich halte das für gefährliche demokratiefeindliche Tendenzen. Eine gute Antwort darauf ist meines Erachtens ein grösseres Mass an direkter Demokratie. In einem grossen Land wie den USA mit seinen 300 Millionen Einwohnern lässt sich dies auf nationaler Ebene zwar nur schwer realisieren. Doch bei den einzelnen Bundesstaaten sehe ich dafür viel Potenzial. Das System zwingt die Parteien dazu, vernünftige politische Vorschläge zu erarbeiten, die mehrheitsfähig sind. Wenn man sieht, wie lebendig und erfolgreich das in der Schweiz funktioniert, wird man unweigerlich zu einem Fan der direkten Demokratie.

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