Mittwoch, Januar 22

In einer Nation, die vom Glanz eines Vielvölkerstaates zehrt, haben es Nationalisten schwer. Umso rabiater zelebriert die FPÖ die Volkskultur.

Österreich hat etwas, das andere nicht haben. Eine Türklinke des Grauens. Das Büro des Bundespräsidenten in der Wiener Hofburg betritt man durch eine monumentale Tapetentür. Dort findet sich die Klinke nicht etwa in bequemer Griff-, sondern auf Augenhöhe. Ein demütigendes barockes Schnörkelstück, das nicht ohne Kraft bedient werden kann.

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Als der FPÖ-Chef Herbert Kickl am Dreikönigstag zum Nach-Wahl-Gespräch mit dem Staatsoberhaupt antrat, klickten die Kameras besonders genüsslich. Der mögliche neue Kanzler schien neben dem innenarchitektonischen Detail grosser Zeiten ziemlich klein. Ist das schon das Symbolbild, das die Medien haben wollen?

Historisch gesehen ist das heutige Österreich Ergebnis eines Schrumpfungsprozesses. Aus der einstigen Grösse, für die auch die Wiener Hofburg steht, ist das Land zu etwas geworden, das mit symbolischem Kapital handeln muss. Herbert Kickl will Meister dieses Deals sein. Mehr Patriotismus! Die FPÖ, die sich eine «Heimatpartei» nennt, hat den Wählern ein neues Gefühl des Österreichertums versprochen. Ein kollektives Wir, das nach rechtspopulistischer Art auch gegen kollektive «Andere» eingesetzt werden kann.

Blasmusik und Trachten

Der Autokrat Viktor Orban ist Kickls Vorbild. Er hat die Idee eines heroischen, von der Geschichte und der EU geknechteten Ungarn in die Herzen seiner Bürger getragen. Es bleibt die Frage, welchen volksverbindenden Heimatbegriff ein möglicher Kanzler Herbert Kickl seinem eigenen Volk verordnen könnte.

In der Steiermark, dem Bundesland, das bereits von der FPÖ regiert wird, sind erste Neudefinitionen vorgenommen worden. Von einer «Umschichtung» von Geldern «von der freien Szene hin zur identitätsstiftenden und breitenwirksamen Volkskultur» ist dort die Rede. Dass ländliches Blasmusikaufkommen und Trachten tatsächlich Eintracht schaffen, müsste die FPÖ erst beweisen. In Österreich gibt es nämlich auch noch einen weiteren gemeinschaftshemmenden Tatbestand. Kaum ein soziokulturelles Gebilde zerfällt so sehr in die Gegensätze Stadt und Land wie dieser Staat, in urbane linke Zentren und rechts wählende Peripherien.

Es ist nicht leicht, in Österreich Populist und Nationalist zugleich zu sein. Die möglichen Umrisse einer österreichischen Nation beruhen eher auf mythischen Annahmen als auf historischen Grenzen. Während der österreichisch-ungarischen Monarchie, der Zeit maximaler Ausdehnung, gehörten rund zwanzig Prozent Europas zum Vielvölkerstaat.

Wie der Begriff schon sagt, war dieses politische Gebilde, das von Vorarlberg bis in die Bukowina reichte und vom Norden Böhmens bis an die Grenzen Montenegros, eine Zone kultureller Varietäten. Der Langzeitkaiser Franz Joseph I. verbat sich deshalb nicht ohne Grund nationalistische Umtriebe. Ein Konzept, das schliesslich nicht aufgehen sollte. Das grosse Reich implodierte im Ersten Weltkrieg und stand 1919 inmitten der Trümmer seiner selbst.

Als stolze Nation konnte sich ein Volk, das nur noch auf einer Endmoräne seiner vorherigen Gebiete sass, nicht mehr verkaufen. Die Verluste waren durchaus auch ökonomischer Natur. Dem verkleinerten Österreich fehlten die Industriegebiete Böhmens und das ungarische Ackerland.

Stille Grösse

Die Zwischenkriegszeit war auch nicht dazu angetan, so etwas wie eine österreichische Nation zu formen. Die Schere zwischen den politischen Gegnern ging immer weiter auf, bis die Lage im Bürgerkrieg des Jahres 1934 kulminierte. Deutschnationale, linke Arbeiterschaft und der klerikalfaschistische Kanzler Engelbert Dollfuss waren Kräfte in dem Konflikt. Die Tatsache, dass der Mussolini-Anhänger Dollfuss von Nationalsozialisten ermordet wurde, konnte später in den Mythos eingemeindet werden, das erste Opfer Hitlers gewesen zu sein.

Die Debatten nach der Befreiung durch die Alliierten zeigen, dass das offizielle Österreich zwar nicht klüger, aber vorsichtiger geworden war. Österreich war diesmal symbolisch auf sich selbst zurückgeschrumpft und hat sich lange Zeit in die These von der «stillen Grösse» gerettet. Von einem patriotischen Surrogat, das sich jeder Vermessung entzieht.

Anderthalb Jahre nach Kriegsende und nach der regen Mitbeteiligung seiner Landsleute beim nationalsozialistischen Treiben sagte der Kanzler Leopold Figl den holprigen Satz: «Wir Österreicher haben viele Enttäuschungen erlebt mit vielen politischen Systemen, die wir durchlebten.» Die Vernebelung von Mitschuld gipfelte in einer moralischen Selbsterhöhung: «Unsere österreichische Weltanschauung war immer nur Menschlichkeit.»

Ludwig Wittgenstein, der Vernebelung unverdächtiger Philosoph und ebenfalls Österreicher, formulierte schon fast zwanzig Jahre zuvor: «Ich glaube, das gute Österreichische ist besonders schwer zu verstehen, es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf der Seite Wahrscheinlichkeit.» Spricht es für ein Land, dass sogar die Philosophen an ihm scheitern?

Wenn Wittgenstein recht hat, dass Österreichs Wahrheit bestenfalls am Rande dessen liegt, was gemeinhin unter diesem Begriff verstanden wird, dann sind wir in einem Schattenreich der Lüge. Über viele Jahrzehnte hat sich Österreich in ein Spiel mit der Wahrheit gerettet. Ins Exportgut Kunst. Hat mit der Unschuld von Sängerknaben in die Weltpolitik geschaut und sich die Wirklichkeit mit Johann-Strauss-Walzern zurechtgefiedelt.

Der sozialistische und kunstaffine Bruno Kreisky war ein Sonnenkönig dieser konsensualen Zeiten. Als jüdischer Exilant konnte er sich vor dem Zugriff der Nazis retten, fand später aber nichts dabei, mit dem FPÖ-Obmann Friedrich Peter Politik zu machen. Als der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal die Vergangenheit Peters bei der Waffen-SS ausleuchtete, warf ihm Kreisky «Mafiamethoden» vor. Es sind, milde gesagt, schillernde Bilder, aus denen sich Österreichs Identität nach dem Krieg zusammensetzt, und sie bleiben bis in die Gegenwart paradox.

Erstaunliche Ruhe in Wien

Die FPÖ, die geschichtlich aus einer Vereinigung ehemaliger Nationalsozialisten hervorging und zu der bis heute das Milieu rechtsextremer und deutschnationaler schlagender Burschenschaften gehört, verkauft sich als «Heimatpartei». Die «Identitäre Bewegung» Martin Sellners hat Herbert Kickl als «eine NGO von rechts» bezeichnet. Es gibt deutliche Sympathien der FPÖ in diese Richtung, ohne dass sich schlüssig sagen liesse, was denn die österreichische Identität überhaupt ist.

Jörg Haider, einer der Vorgänger Herbert Kickls als FPÖ-Chef und Ahnherr aller europäischen Populisten und Nationalisten, hat sich in der Frage der österreichischen Nation als biegsam erwiesen. 1988 bezeichnete er sie als eine «ideologische Missgeburt», 1992 startete er das Volksbegehren «Österreich zuerst», eine Art Blaupause für alles, was rechtspopulistische Parteien heute fordern. Als «Anti-Ausländer-Volksbegehren» sah ein Grossteil der Bevölkerung damals die Initiative. Am Heldenplatz und vor der Hofburg versammelten sich 300 000 Menschen, um dagegen zu protestieren. Es war die grösste Kundgebung in der österreichischen Nachkriegsgeschichte.

Im Jahr 2000, als die ÖVP erstmals mit der FPÖ auf Bundesebene koalierte, gab es wieder Grossdemonstrationen. Jetzt, da Österreich einen selbst für rechtspopulistische Verhältnisse rechten Kanzler bekommen könnte, ist es in Wien erstaunlich ruhig. Die Kulisse, mit der sich das einstmals grosse Österreich verewigt hat, steht da, als wäre nichts. Vom Leopoldinischen Trakt der barocken Wiener Hofburg kann man hinüberschauen auf das Parlament, das im Stil eines griechischen Tempels erbaut ist. Für das nahe Rathaus hat man im 19. Jahrhundert Anleihen an gotischen Kathedralen genommen. Und das Burgtheater ist auch noch da. In der architektonischen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen scheint die Geschichte aufgehoben.

Vor zwei Wochen hat Österreich jenen Augenblick erlebt, wo Gegenwart und Vergangenheit einander berühren. Mit einem Auftrag zur Regierungsbildung von Bundespräsident Alexander van der Bellen hat Herbert Kickl, Chef einer in Teilen rechtsextremen Partei, die Wiener Hofburg verlassen. Den Griff zur berühmten Türklinke könnte man jetzt öfter sehen.

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