Mittwoch, Januar 29

Der seit 1957 in Wien lebende Publizist Paul Lendvai gehört zu den profundesten Kennern Osteuropas. Im Gespräch äussert er sich besorgt über antidemokratische Entwicklungen im Osten und den Aufstieg der FPÖ.

Er lebt über den Dächern von Wien, öffnet die Tür zu seiner Wohnung im eleganten Tweed-Sakko und trägt selbstverständlich Budapester Schuhe. Paul Lendvai ist der grosse alte Mann des österreichischen Journalismus. 1929 in der ungarischen Hauptstadt geboren, hat er die antisemitischen Verfolgungen des Jahres 1944 knapp überlebt und ist nach dem Volksaufstand im Jahr 1957 nach Wien geflüchtet, um von hier aus als Korrespondent für die «Financial Times» zu arbeiten. Später wurde er Chef der Osteuropa-Redaktion des Österreichischen Rundfunks. In Lendvais Bücherregalen stehen Erinnerungsstücke und Auszeichnungen nebeneinander. Seine Tausende Artikel sind sorgsam archiviert. Frühe Texte sind in der NZZ unter dem Autorenkürzel U. W. erschienen, «Ungarn in Wien», wie er erzählt. Seinen Akzent hat Paul Lendvai bis heute genauso wenig verloren wie seine journalistische Energie. Der 95-Jährige mischt sich ein, vor allem wenn es um Österreich geht. Seine Sofalandschaft ist für mindestens zehn Personen gemacht und für lange Gespräche über Gott und die Welt.

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Herr Lendvai, nach der letzten Wahl, bei der die rechtspopulistische FPÖ stimmenstärkste Partei geworden ist, steht Österreich wieder einmal unter internationaler Beobachtung. Wie schon bei der Waldheim-Affäre, beim Aufstieg Jörg Haiders und bei der Bildung einer ersten schwarz-blauen Koalition im Jahr 2000. Der FPÖ-Chef Herbert Kickl, der österreichischer Kanzler werden könnte, droht mit einem autoritären Führungsstil und nennt Viktor Orban ein Vorbild. Wie gross ist die Gefahr einer Entdemokratisierung des Landes?

Es ist ein ganz grosser Unterschied, ob man über das heutige Ungarn unter Orban oder über Österreich spricht. Denn Österreich ist eine seit 1945 gewachsene Demokratie. Das wäre die erste österreichische Regierung unter der Leitung eines Bundeskanzlers, der grundsätzliche demokratische Werte offen ablehnt. Das ist unglaublich. Schon in den letzten Jahren wurde Österreichs internationales Ansehen beschädigt. Der ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz hat eine schwarz-blaue Koalition mit einer von der FPÖ nominierten Aussenministerin geführt, die enge Kontakte zu Wladimir Putin hatte. Dieser war unter anderem bei ihrer Hochzeit mit dabei. Nach ihrer Amtszeit hat sie für russische Konzerne und Medien gearbeitet und leitet einen Think-Tank in Russland.

Auch Herbert Kickl rühmt sich seiner guten Kontakte zu Russland.

Herbert Kickl, der Österreichs nächster Kanzler werden könnte, ist ein Fall für sich. 2018 liess er als damaliger Innenminister nach einem Beschluss der Staatsanwaltschaft eine politisch motivierte Razzia beim Verfassungsschutz durchführen, bei der enorme Mengen hochsensitiver Daten beschlagnahmt wurden. Die ausländischen Geheimdienste, mit denen Österreich kooperiert, waren entsetzt und haben die Zusammenarbeit aus Sicherheitsgründen eingestellt. 2019 wurde Kickl als erster und bisher einziger Minister der Zweiten Republik auf Betreiben von Sebastian Kurz aus seinem Amt entlassen. Kurz war bis 2021 Kanzler. Er wurde wegen falscher Aussagen zu acht Monaten bedingt verurteilt, und es läuft ein anderes Gerichtsverfahren gegen ihn. Er hat eine moralische Trümmerlandschaft hinterlassen.

Was kann ein möglicher Kanzler Kickl anstellen?

Man muss eines sagen: Die Macht ist Kickl in den Schoss gefallen, weil sich die anderen drei Parteien bei Koalitionsverhandlungen auf kindische Weise zerstritten haben. Wenn die FPÖ Kanzlerpartei wird, ist die grosse Frage, welche Ministerien sie bekommt. Wenn man der FPÖ das Innenministerium überliesse, das Justizministerium oder das Aussenministerium, dann wäre für mich eine rote Linie überschritten. Nach den bisherigen Erfahrungen mit Kickl würde man einem FPÖ-Innenminister zutiefst misstrauen. Es gibt ein Kooperationsabkommen der FPÖ mit Russland. Als der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski 2023 per Videoschaltung einen Hilferuf an das österreichische Parlament sandte, hat die FPÖ geschlossen den Saal verlassen. Und die FPÖ möchte die Sanktionen gegen Russland beenden.

Als Journalist sind Sie seit vielen Jahrzehnten mit der Frage beschäftigt, was aus Europa wird. Ist die Lage heute unübersichtlicher denn je? Könnten die antagonistischen Kräfte die EU sprengen?

Im europäischen Osten hat sich eine Fraktion der Zerstörer gebildet. Mit Viktor Orban und Robert Fico. Dazu kommen natürlich die EU-Gegner in den Niederlanden, in Frankreich und in Italien. Das ist beängstigend. Aber es gibt auch transnationale Kräfte, die beunruhigen. Elon Musk zum Beispiel verteilt weltweit seine Ohrfeigen. Das sind Entwicklungen, die neu sind. Sie können auch die kleinen Staaten bedrohen, und ich will nicht noch einmal meine Heimat verlieren. Es genügt mir, dass sich Ungarn seit fünfzehn Jahren autoritär entwickelt.

Ist das nicht sehr viel Schwarzmalerei, was Österreich betrifft?

Ja und nein. Österreich ist Teil einer Wellenbewegung. Ich zitiere gerne Hegel, der einmal gesagt hat: «Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.» Wir haben in Österreich Probleme wie anderswo auch. Seriöse Medien werden immer weniger konsumiert. Man holt die Informationen aus den sogenannten sozialen Netzwerken. Und dann ist da natürlich noch das reale Problem der Migration. Es wachsen Kinder heran, die die deutsche Sprache nicht können und vor unterbezahlten Lehrern stehen. Etwas anderes stimmt auch: Die Österreicher möchten, dass das ausländische Pflegepersonal in den Spitälern und die migrantischen Arbeiter bei der Strassenreinigung von neun bis fünf da sind, sich aber für den Rest des Tages in Luft auflösen.

Sie haben eine Biografie Viktor Orbans geschrieben und seinen Aufstieg als Journalist mitverfolgt. Konnte dieser Aufstieg zum Autokraten nur in einem Land wie Ungarn funktionieren?

Das ungarische System begünstigt seit langem den Sieger einer Wahl. Er bekommt damit überproportionale Macht in die Hand. Das wusste Orban, und er hat schon ganz früh gesagt: «Wir müssen nur einmal siegen, aber dann gross!» Dann hat er, ohne das Volk zu befragen, die Verfassung geändert. Er hat die Wahlkreise verschoben, um die eigenen Erfolgsaussichten zu erhöhen und so weiter. Orban musste keinen Putsch verüben, sondern konnte unter Ausnützung der demokratischen Spielregeln die liberale Demokratie beseitigen. In Österreich ist das anders. Hier braucht es für zentrale Entscheidungen Zweidrittelmehrheiten. Das ist eine gewisse Barriere. Auch die Rolle des Bundespräsidenten ist stark.

Hat es mit Ihrer Biografie zu tun, dass Sie auf ein Übermass an politischer Macht sehr empfindlich reagieren?

Die Angst vor der Macht gab es schon in meiner Kindheit. Als jüdischer Schüler musste ich darum kämpfen, ins Gymnasium aufgenommen zu werden. Damals war der Antisemitismus in Ungarn spürbar. Die Gefahr der Verfolgung hat mein ganzes Leben in Ungarn begleitet. Ich habe vieles erlebt. 1944, nach dem deutschen Einmarsch, konnten wir dank einem Schweizer Schutzpass überleben. 1953 wurde ich von der kommunistischen Staatsmacht für acht Monate interniert. Man wollte mich umbringen, hat mich ins Gefängnis gesteckt und dann meine berufliche Existenz zunichtegemacht. Ich hatte drei Jahre Schreibverbot. Seit meiner Flucht aus Ungarn im Jahr 1957 gab es in der Heimat zwei Mal eine Kampagne gegen mich. Macht war für mich lange etwas Böses. Sie kann Menschen zerstören.

Ihr Leben dauert fast schon ein Jahrhundert. Sie haben von den Wellen in der Geschichte gesprochen und verschiedene politische Systeme erlebt. Fühlen Sie sich durch heutige Ereignisse an frühere Zeiten erinnert?

Die Farben der Fahnen ändern sich. Und die Menschen sind niemals die gleichen. Als ich jung war, habe ich in Ungarn eine kurze Periode der Demokratie erlebt. Dann habe ich als Jungsozialist geholfen, diese Demokratie zu untergraben. Über Warschau und Prag bin ich durch Glück nach Wien gekommen. Österreich war immer ein Leuchtturm für die Länder im Osten. Das Land hat gezeigt, was alles möglich ist. In meinem jetzigen Alter möchte ich mit Arthur Schnitzler sagen: «Je älter man wird, umso mehr erkennt man, dass es kein phantastischeres Element gibt als die Politik.» Es ist also kaum möglich, hier Prophet sein zu wollen.

Es gibt heute viele Gründe, pessimistisch zu sein. Die Menschheit scheint keinen gemeinsamen Begriff der Wahrheit mehr zu haben. In Ihrem neuen Buch «Über die Heuchelei» bringen Sie ein sensationell treffsicheres Zitat: «Was wir heute Wahrheit nennen, ist nicht, was wahr ist, sondern was man anderen einreden kann.» Man staunt über das Jahr, aus dem dieser Satz stammt. 1580. Montaigne ist der Autor.

Der Begriff der Wahrheit hat sich in der heutigen Zeit noch einmal sehr verändert. Es gibt zwei Länder, Russland und China, die versuchen, ihn auch in der westlichen Welt zu verändern. In Amerika haben wir jetzt mit Trump etwas, das ich «unguided missile» nennen würde. Es sind Regime der Selbstsucht. Das ist eine brandgefährliche Lage. Auch der Antisemitismus ist im Vormarsch.

Bekommen Sie den neuen, oft migrantischen, oder den alten Antisemitismus auch selbst zu spüren?

Als Jude hatte ich bisher Glück in diesem Land und habe keine Angriffe erlebt. Ich gelte als österreichischer Patriot mit ungarischem Akzent. Den habe ich nie verloren. Wir werden sehen, wie es in Österreich weitergeht. Ich lasse mich überraschen.

Man kann einen Satz wie «Mich überrascht nichts mehr» sehr abgeklärt sagen oder eher resignativ. Was wäre Ihre Variante?

Ich bin nicht resignativ. In meinem Leben habe ich vieles nicht erwartet. Den Ungarn-Aufstand nicht und den Sturz Chruschtschows nicht. Und auch den Mauerfall hätte ich nicht voraussagen können. Was Österreich betrifft: Es ist ein ewiges Laboratorium. Wieder einmal stecken wir in einer Situation, die gut ist für die Analytiker und schlecht für das Land. Meine Devise lautet: «Niemals aufgeben!»

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