Wenige Tage nachdem der Internationale Gerichtshof Israel aufgefordert hat, seine Rafah-Offensive zu stoppen, werden bei einem israelischen Angriff offenbar mehrere Zivilisten getötet. Zuvor hatte die Hamas zum ersten Mal seit Monaten Tel Aviv mit Raketen beschossen. Was bisher bekannt ist.

Zelte in Flammen, schreiende Männer, Sirenen und verkohlte Leichen: Aufnahmen von Nachrichtenagenturen und Videos in den sozialen Netzwerken zeigen Feuer, Tod und Zerstörung in einem Lager für Vertriebene nordwestlich der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen. Die Szenen sollen das Resultat eines israelischen Angriffs von Sonntagnacht sein. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde in Gaza spricht von mindestens 35 Toten und mehreren Dutzend Verletzten – bei den meisten Getöteten soll es sich angeblich um Frauen und Kinder handeln.

Die Angaben zu den Opferzahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Allerdings teilte auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen mit, dass nach dem Luftangriff Dutzende Verletzte und über 15 Tote zu einer Klinik gebracht wurden, die sie betreibt.

Die israelische Armee teilte in der Nacht von Sonntag auf Montag mit, sie habe einen Hamas-Komplex in Rafah aus der Luft angegriffen. Bei dem Luftangriff seien Jassin Rabia, der Kopf hinter den Terroraktivitäten der Islamistenorganisation im Westjordanland, und das ranghohe Hamas-Mitglied Chaled Nagar getötet worden. Der Schlag wurde laut Angaben des Militärs mittels Präzisionsmunition und auf der Basis von Geheimdienstinformationen durchgeführt. Die Berichte, dass infolge des Luftangriffs ein Feuer ausgebrochen sei, bei dem Unbeteiligte zu Schaden gekommen seien, würden überprüft.

Feuer wütete wahrscheinlich ausserhalb der humanitären Zone

Der Rote Halbmond erklärte, das getroffene Gebiet sei eine der ausgewiesenen humanitären Zonen für jene Menschen, die wegen der israelischen Kampfhandlungen zur Evakuierung aufgefordert worden seien. Auch mehrere westliche und arabische Medien berichteten, Israel habe ein Lager innerhalb des Gebiets angegriffen, das es selbst als sichere Zone gekennzeichnet habe. Zweifelsfrei belegt ist das allerdings nicht.

Schon vor Monaten hatte Israel ein Gebiet bei al-Mawasi an der Küste als «humanitäre Zone» ausgewiesen. Mit Beginn der Offensive auf Rafah erweiterten die israelischen Streitkräfte diese Zone. Über 900 000 Menschen sollen aus Rafah seit Beginn der Offensive bereits geflohen sein. Viele gingen in das ausgewiesene Gebiet. Am 22. Mai kündigte ein Sprecher der israelischen Armee an, dass drei weitere Gebiete der humanitären Zone im Süden hinzugefügt worden seien.

In einem dieser neu hinzugefügten Gebiete soll sich laut Medienberichten auch das Brix-Lager befinden, wo der Brand ausgebrochen ist. Dieses befindet sich wenige Meter von einem Uno-Logistikzentrum entfernt, welches ausserhalb der humanitären Zone steht. Die NZZ hat den genauen Standort des Logistikzentrums verifiziert. Laut dem katarischen Fernsehsender al-Jazeera fand der Angriff einige Meter nördlich des Uno-Gebäudes statt. Gemäss diesen Angaben befindet sich das Vertriebenenlager ebenfalls knapp ausserhalb der humanitären Zone.

Einige Stunden vor dem israelischen Angriff hatte die Hamas am Sonntag erstmals seit vier Monaten Tel Aviv mit Raketen beschossen. Die Terrororganisation feuerte acht Raketen aus Rafah auf Israels grösste Stadt ab, zwei Personen wurden leicht verwundet. Die Abschussrampe wurde wenige Stunden nach dem Angriff am Sonntag von der israelischen Luftwaffe zerstört.

Israel setzt Rafah-Offensive auch nach ICJ-Urteil fort

Der Internationale Gerichtshof (ICJ) hatte Israel am Freitag verpflichtet, seinen Militäreinsatz in Rafah unverzüglich zu beenden. Der Militäreinsatz im Süden des Gazastreifens stelle ein immenses Risiko für die Bevölkerung dar, urteilte das oberste Uno-Gericht in Den Haag. Mit der Anweisung zur Evakuierung von Rafah habe Israel nicht genug zum Schutz der Zivilisten getan.

Das Urteil wurde im Rahmen der Genozid-Klage Südafrikas vor dem Gerichtshof gesprochen. Südafrika hatte argumentiert, dass die Offensive auf Rafah eine Veränderung der Situation bedeute, die den Erlass weiterer Massnahmen erfordere.

Vier Richter des ICJ interpretieren das Urteil aus Den Haag in Bezug auf einen möglichen Verstoss gegen die Genozid-Konvention weniger streng: Israel werde mit dem Urteil nicht unmittelbar dazu aufgefordert, den Militäreinsatz in Rafah zu stoppen, sondern müsse lediglich sicherstellen, dass seine Militäroperation in der Stadt nicht zu einer physischen Vernichtung der Palästinenser führe. Israels Berater für nationale Sicherheit, Tzachi Hanegbi, schloss sich dieser Interpretation am Samstag an. Hanegbi sagte, Israel werde seine Offensive fortsetzen.

Der Druck auf Israel nimmt allerdings dennoch zu – vor allem nach dem Angriff von Sonntagnacht. Die italienische Regierung teilte am Montag mit, Israels Vorgehen sei nicht mehr zu rechtfertigen. Selbst enge Verbündete wie Deutschland stellen sich gegen weitere Angriffe in der Stadt im südlichen Gazastreifen. Das Urteil des ICJ sei bindend und müsse befolgt werden, sagte die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock am Montag. «Das humanitäre Völkerrecht gilt für alle, auch für Israels Kriegsführung.»

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