Donnerstag, November 13

Bei Kiews Offensive auf russischem Gebiet kommen offenbar auch Marder-Schützenpanzer zum Einsatz. In Deutschland sorgt das bis jetzt noch für verhaltene Diskussionen. Doch das könnte sich ändern.

Der Marder steht an einer Strassenkreuzung. Er ist mit Netz und Grünzeug getarnt, seine Kanone ist schwer zu erkennen. Das Video zeigt den deutschen Schützenpanzer aus grosser Höhe, bevor die Drohne schnell näher kommt, die das Video aufnimmt. Dann ändert sich die Perspektive. Nun ist der Marder wieder aus der Vogelperspektive zu sehen. Eine Drohne rast auf ihn zu und explodiert.

Es ist eines von unzähligen Videos, die Drohnenangriffe auf ukrainische Panzerfahrzeuge zeigen. Doch in diesem Fall ist etwas entscheidend anders: Diese Aufnahme entstand wohl nicht auf ukrainischem Boden. Der Marder soll an einer Kreuzung in der russischen Grenzregion Kursk zerstört worden sein.

Es sind nicht allein deutsche Schützenpanzer, die beim ukrainischen Vorstoss auf russisches Gebiet derzeit eingesetzt werden. Auch andere westliche Waffensysteme sind dabei, darunter amerikanische Radpanzer vom Typ Stryker, französische Truppentransporter vom Typ VAB und polnische Artilleriegeschütze vom Typ Krab. Die Ukraine nutzte sie bisher, um sich auf eigenem Gebiet gegen die russische Invasion zu wehren. Nun aber setzt sie diese Waffen auch auf russischem Boden ein, und in Deutschland entsteht eine Diskussion, ob sie das überhaupt darf.

Das hat zwei Gründe. Einer davon ist historisch. Deutsche Panzer bei Kursk – da war doch was? Die Frage wird ganz besonders in Moskau gestellt und passt in das Narrativ des Putin-Regimes von den «ukrainischen Nazis» und ihren westlichen Förderern. In der Schlacht von Kursk im Juli 1943 versuchte die deutsche Wehrmacht zum letzten Mal im Zweiten Weltkrieg, in einer grossangelegten Operation wieder die Initiative gegen die Rote Armee zu erringen. Beide Seiten setzten Tausende Kampf- und Schützenpanzer, Flugzeuge und Sturmgeschütze ein. Mehr als eine Million Soldaten wurden getötet oder verwundet. Die Schlacht ging für die Wehrmacht verloren.

Marder sind ukrainische Waffen, keine deutschen

Doch bei den Mardern in der Region Kursk handelt es sich nicht um von Deutschland eingesetzte Panzer. Mit der Übergabe seien die Fahrzeuge in den Besitz der Ukraine übergegangen, sagt etwa Roderich Kiesewetter, sicherheitspolitischer Fachmann der Christlichdemokraten. Die Ukraine dürfe die Panzer einsetzen, wie sie es für richtig halte, solange, und das ist der zweite Grund für die Diskussion in Deutschland, sie sich an das humanitäre Völkerrecht halte. Diese Auffassung teilt auch der Bonner Völkerrechtsprofessor Matthias Herdegen. Das Recht auf Selbstverteidigung decke gerade auch militärische Operationen auf dem Gebiet des angreifenden Staates, sagt er.

Anders sieht das die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, Vorsitzende des nach ihr benannten Bündnisses BSW. Sollte die Bundesregierung den Marder-Einsatz auf russischem Gebiet gebilligt haben, sei eine «rote Linie» überschritten worden, sagte sie. Deutschland werde dadurch «immer tiefer in den Krieg hineingezogen», und die Gefahr «eines grossen europäischen Krieges» werde immer grösser.

Doch offenbar wusste die deutsche Regierung nichts von den ukrainischen Plänen. Bisher hielt sie sich mit Äusserungen zur ukrainischen Offensive zwar zurück. Ihr stellvertretender Sprecher Wolfgang Büchner sprach aber in Berlin von einer «sehr geheim und ohne Rückkoppelung vorbereiteten Operation». Das lässt den Schluss zu, dass sie ohne Abstimmung mit der Regierung in Berlin erfolgte.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie Bundeskanzler Olaf Scholz reagiert hätte, wenn ihm die Ukrainer vorab gesagt hätten, dass sie mit deutschen Schützenpanzern in Russland angreifen. Als nach dem Überfall der Putin-Truppen im Februar 2022 die deutsche Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine begann, stand Scholz, vor allem aber die Linken in seiner sozialdemokratischen Partei, vehement auf der Bremse. Wenn die Bundesrepublik Kampf- und Schützenpanzer liefere, wachse die Gefahr, dass der Krieg eskaliere, sagte unter anderem der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich immer wieder warnend.

Keine Beschränkung des Einsatzraums

Scholz machte sich diese Argumentation monatelang zu eigen, bevor er Anfang Januar 2023 schliesslich doch die Lieferung von Marder- und drei Wochen später von Leopard-2A6-Panzern verkündete. In einer Rede vor dem Bundestag Ende Januar 2023 brachte er die Marder-Entscheidung in einen Zusammenhang mit der Zusage der USA, gleichzeitig amerikanische Bradley-Schützenpanzer zu liefern. Von einer Beschränkung des Einsatzraums der Marder auf die Ukraine sprach Scholz damals nicht.

Mehr als anderthalb Jahre später zeigt sich, dass weder die deutschen Schützenpanzer noch der Leopard 2 eine Wende auf dem Gefechtsfeld gebracht haben. Das konnten sie schon allein deshalb nicht, weil es für die Ukrainer viel zu wenige waren. Im Winter vergangenen Jahres hatte die deutsche Regierung angekündigt, 40 Marder- und 18 Leopard-2A6-Panzer zu liefern. Inzwischen wurde die Zahl der Marder auf 120 aufgestockt, die letzten zehn kamen in diesem Frühsommer in der Ukraine an. Die meisten von ihnen stammen aus Beständen der Rüstungsindustrie.

Wie hoch die Verlustrate bei dem in den 1960er Jahren entwickelten Marder ist, lässt sich schwer verifizieren. Die Rechercheure des niederländischen Militärblogs Oryx haben bisher 22 zerstörte, aufgegebene oder erbeutete Marder gezählt. Die Bundeswehr verfügte im Kalten Krieg über mehrere tausend dieser Schützenpanzer. Sie sollten Infanteristen unter Panzerschutz an die Front bringen, bewaffnet mit einer 20-Millimeter-Kanone.

1000 Quadratkilometer besetzt

Beobachter wie der österreichische Generalstabsoffizier Markus Reisner berichten allerdings, dass die Ukrainer den amerikanischen Bradley dem deutschen Marder allein schon wegen der höheren Durchschlagskraft seiner Kanone vorzogen. Nachdem die US-Regierung in diesem Frühjahr weitere 100 Bradleys zugesagt hat, liegt die Zahl dieser Schützenpanzer in der Ukraine etwa beim Dreifachen der deutschen Lieferungen. Zugleich sind die Verluste enorm. Oryx berichtet von 92 zerstörten, aufgegebenen oder von den Russen erbeuteten Bradleys.

Nachdem die ukrainischen Truppen am 6. August auf russisches Gebiet vorgestossen und zunächst auf relativ geringen Widerstand gestossen waren, häuften sich jüngst die Nachrichten und Bilder von zerstörten und erbeuteten ukrainischen Waffen. Darunter befindet sich nicht nur das Video des Angriffs auf den Marder, sondern auch Bilder amerikanischer und französischer Fahrzeuge. Dennoch haben es die russischen Streitkräfte bisher offenbar nicht geschafft, den ukrainischen Vorstoss zu stoppen.

Kiews Streitkräfte sind mehrere Dutzend Kilometer tief auf das Gebiet des Moskauer Regimes vorgedrungen, offenbar mit dem Ziel, dort eine Pufferzone zu errichten. Nach eigenen Angaben besetzen sie inzwischen ein Gebiet der Grösse von mehr als 1000 Quadratkilometern. Doch Russland führt Truppen heran, die es in Richtung der ukrainischen Angriffsspitzen vorschiebt. Unter Einsatz von Drohnen, Artillerie, Raketenwerfern und Gleitbomben versuchen Moskaus Streitkräfte zudem, den Nachschub der Ukrainer zu unterbinden und die vielfach in bewaldetes und schwer zugängliches Gebiet ausgewichenen gegnerischen Truppen zu bekämpfen.

Aus deutscher Sicht stellt sich die Frage, wie nachhaltig der ukrainische Vorstoss sein wird. Sollte es den Ukrainern gelingen, eine Pufferzone auf russischem Territorium zu errichten und damit Gebiete zu halten, dürfte das Problem auftauchen, wie sie sich der zu erwartenden russischen Angriffe erwehren können. Dabei werden auch Raketen- und Rohrartillerie eine Rolle spielen. Die deutsche Panzerhaubitze 2000 etwa hat je nach Munitionstyp eine Reichweite von bis zu 80 Kilometern. Sie könnte in Anbetracht der bisherigen Gebietsgewinne von ukrainischem Boden aus eingesetzt werden, um russische Gegenangriffe in der Region Kursk zu bekämpfen.

Unangenehme Szenarien für Olaf Scholz

Für den deutschen Kanzler wäre ein solches Szenario alles andere als angenehm. Es birgt weiteren Konfliktstoff in seiner Partei. Es ist gerade der Einsatz deutscher Waffen auf russischem Gebiet, der seit mehr als einem Jahr die Debatte über den möglichen Einsatz des deutschen Marschflugkörpers Taurus prägt. Nicht zuletzt weil dieser bis tief nach Russland reichen könnte, sieht insbesondere der linke Flügel in der SPD eine Eskalationsgefahr, die zu einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland führen könnte.

Diese Sorge galt lange Zeit auch für andere weitreichende Waffen, etwa die von den USA und Deutschland gelieferte Raketenartillerie vom Typ Himars und Mars II. Deshalb haben die westlichen Verbündeten der Ukraine hier lange Zeit Restriktionen auferlegt. Nach der russischen Offensive gegen Charkiw im Mai revidierten Washington und Berlin allerdings diese Haltung. Seither können westliche Waffen auf russischem Boden eingesetzt werden, wenn ein Angriff droht.

Die Offensive in der Region Kursk zeigt, dass diese Regel offenkundig grosszügig ausgelegt wird. Ob sie auch bei der Verteidigung ukrainischer Truppen auf russischem Boden gilt, ist unklar. Es könnte sein, dass mit dem ukrainischen Vorstoss im Kursker Raum schon bald nicht nur betagte deutsche Schützenpanzer, sondern auch moderne Artillerie auf russischem Boden eingesetzt wird.

Für den linken SPD-Flügel um Rolf Mützenich wäre das eine weitere Niederlage in einer ganzen Reihe von Entscheidungen der Sozialdemokraten seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Erst in dieser Woche hatte das SPD-Präsidium erklärt, den Plan von Kanzler Scholz zu unterstützen, weitreichende amerikanische Raketen in Deutschland zu stationieren. Mützenich und die Parteilinke hatten die Stationierung als hohes Sicherheitsrisiko bewertet und sie abgelehnt, wie auch die AfD und das BSW.

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