Mittwoch, April 30

Ist die Gesellschaft gespalten? Nicht unbedingt, sagt der Philosoph Michael Andrick. Und vor allem nicht deshalb, weil es verschiedene Meinungen gibt. Sondern weil die Meinungen mit höherer Moral gerechtfertigt werden.

Der Berliner Philosoph Michael Andrick hat ein Buch veröffentlicht, das dem Malaise unserer Zeit eine klare Diagnose stellt. Die Gesellschaft sei gespalten, wird allenthalben beklagt. Was das genau bedeutet und – vor allem – wie es so weit kommen kann, wird allerdings kaum mehr gefragt. Andrick hält dem Schlagwort der gespaltenen Gesellschaft eine differenziertere Sichtweise entgegen. Von Spaltung, postuliert er, könne nicht schon da die Rede sein, wo sich Gruppen mit entgegengesetzten, polarisierenden Überzeugungen zu zentralen Themen gegenüberstünden.

Eine Spaltung entstehe vielmehr erst und nur dann, wenn eine Seite ihren Standpunkt moralisiere, sagt Andrick. Die Berufung auf die Moral führe dazu, dass diese Seite nicht mehr sachbezogen argumentiere, sondern für sich in Anspruch nehme, das Gute und Gerechte zu vertreten. Wer für die entgegengesetzte politische Position eintritt, manifestiert aus Sicht derer, die sich im Recht fühlen, eine moralisch verwerfliche Haltung: ist zum Beispiel «egoistisch» statt «solidarisch».

Wahrheiten

Entgegengesetzte, polarisierende Überzeugungen gibt es in den verschiedensten Bereichen der Politik: bei der Staatsverschuldung, bei der Altersvorsorge oder den Krankenkassenprämien. Von Spaltung der Gesellschaft ist da allerdings noch nicht die Rede. Sondern erst da, wo es etwa um Corona, Klima oder Krieg geht. Erst bei emotional aufgeladenen Themen setzt sich das Virus der Moralisierung durch, wie Andrick es ausdrückt.

Wie immer in der Philosophie folgt auf die These die Präzisierung: Andrick vertritt nicht die Auffassung, dass eine Gesellschaft ohne Moral auskommen und rein technokratisch funktionieren könnte. Er ist moralischer Realist: Es gibt auch in der Moral Wahrheiten. Zu diesen gehört der kategorische Imperativ. Jede Person ist verpflichtet, jede andere Person immer als Zweck an sich zu behandeln und nie als blosses Mittel zu einem Zweck. Auch dann, wenn dieser Zweck in etwas besteht, was man als das allgemein Gute erkannt zu haben meint.

Das Problem der gesellschaftlichen Spaltung liegt für Michael Andrick darin, dass eine politische Auseinandersetzung zu einer moralischen Debatte wird. Eine Seite erhebt eine Handlungsoption zum Ausdruck des moralisch Guten – und behandelt diejenigen, die eine andere Ansicht vertreten, nicht mehr als Zweck an sich. Sie spricht ihnen im Namen der Moral die Legitimität ihrer Position ab, um ihr eine bestimmte Lebensweise aufzuzwingen.

So geschah es während der Corona-Pandemie, als der Staat Massnahmen anordnete, welche die Grundrechte massiv einschränkten. So droht es in der Klimadebatte, wenn Forderungen laut werden, den privaten Lebensraum umfassend zu regulieren. Oder wenn nicht mehr offen darüber diskutiert werden darf, wie sich Staaten in Bezug auf laufende Kriege positionieren sollen.

Die Diktatur des eigenen Willens

Wie kommen wir aus dem «Moralgefängnis» wieder heraus, in dem man politische Meinungsverschiedenheiten nur durch moralisierende Gitterstäbe sieht? Der entscheidende Schritt liegt für Andrick darin, dass man seine Mitmenschen als Mitbürger versteht und respektiert. Unklar bleibt allerdings, was das genau heisst: Ist damit nur die Verpflichtung gemeint, alle Menschen als Zweck an sich zu respektieren? Oder umfasst der Respekt weitergehende Bürgerpflichten in Bezug auf die Menschen, mit denen man in einer politischen Gemeinschaft zusammenlebt?

Und wie verhält es sich mit dem, was zurzeit im Zusammenhang mit der politischen Aufarbeitung der Corona-Massnahmen diskutiert wird? Wer nur schon kritische Fragen stellte, wurde während der Pandemie rasch verunglimpft und ausgegrenzt. Wie führt der Weg von da zurück zu einer Kultur des gegenseitigen Respekts?

Die Berufung auf die Moral, das zeigt Andricks Buch, kann zum Gefängnis werden, in dem sich gesellschaftliche Debatten verfangen. Jeder ist gefordert, sich dem entgegenzusetzen. Indem er den Mitbürgern mit Respekt begegnet. Das Problem liegt nicht darin, dass unsichtbare Mächte die Moralin-Epidemie antreiben: Wir dürfen uns nicht vom Moralin-Virus anstecken lassen. Indem wir uns nicht der Diktatur des eigenen Willens ergeben. Michael Andrick versucht eine Anleitung dazu zu geben.

Michael Andrick: Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden. Westend-Verlag, Neu-Isenburg 2024. 160 S. Fr. 28.90.

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