Überzeugte Gegner, eher lauwarme Befürworter: Dem ausgehandelten Vertrag Schweiz – EU steht ein schwieriger Abstimmungskampf bevor. Selbst der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse zeigt sich derzeit wenig enthusiastisch.
«Kolonialvertrag». Das sagen Gegner zum Vertrag, den die Schweiz mit der EU ausgehandelt hat. Von Befürwortern ist Folgendes zu hören: «Mit der Aktualisierung der bestehenden Binnenmarktabkommen kann der Zugang zum EU-Binnenmarkt langfristig auf stabile Beine gestellt werden.» Dies sagte Christoph Mäder als Präsident des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse am Dienstag vor den Medien in Bern. Und er beeilte sich anzufügen, dass dies eine vorläufige Positionierung sei, da zurzeit weder die Vertragstexte im Detail bekannt seien noch die innenpolitische Umsetzung.
Die genannten Botschaften illustrieren die bisherige Tendenz: Viele Gegner des EU-Vertrags sind engagiert, beseelt und skrupellos mit Schlagworten – und der Sukkurs mancher Befürworter erscheint lauwarm. Das sind keine erbaulichen Aussichten für den Vertrag, der vielleicht 2027 oder 2028 an die Urne kommt – sofern das Volk die Sache nicht schon vorher mit der Zustimmung zur SVP-Volksinitiative über die 10-Millionen-Schweiz beerdigt.
Argumente für den Kopf
Der EU-Vertrag ist bei sympathisierenden Schweizern eher etwas für den Kopf als für das Gemüt. Er verspricht eine Aufdatierung der bestehenden Abkommen zum Vertragspaket der Bilateralen I (zu Themen wie Personenfreizügigkeit, gegenseitige Anerkennung von Produktzertifizierungen und Luftverkehr); er verspricht neue Abkommen unter anderem zum Strom; er verspricht die vollen Mitwirkungsrechte im EU-Forschungsprogramm; und er verspricht ein Schiedsgericht zur Eindämmung der Willkür von EU-Sanktionen.
Die Absicherung des erleichterten Zugangs zum EU-Binnenmarkt dürfte der Schweiz wirtschaftlich nützen. Eine Aufdatierung früherer Schätzungen zum wirtschaftlichen Wert der «Bilateralen» soll bald kommen, aber spektakuläre Zahlen sind nicht zu erwarten. Es dürfte bei den bisherigen Tendenzaussagen bleiben: Der erleichterte Zugang zum EU-Binnenmarkt erhöht den Wohlstand, und die eher klein scheinenden Differenzen von Jahr zu Jahr läppern sich mit der Zeit zusammen.
Den meisten Schweizern geht es wirtschaftlich im internationalen Vergleich unverschämt gut. Die Wohlstandsinsel Schweiz existiert schon so lange, dass viele sie als Naturgesetz betrachten. Das Land ist dekadent geworden: Ansprüche an den Staat statt Leistung und Umverteilung statt Verbesserung des Gesamtkuchens sind die modernen Parolen. Auf einen EU-Vertrag haben wenige Bürger gewartet.
Vergessene Stromkrise?
Nicht einmal die Aussicht auf ein Stromabkommen mit der EU, das eine höhere Versorgungssicherheit verspricht, scheint innenpolitisch ein starkes Plus zu sein. Die Befürchtungen von 2022 über Stromknappheiten sind offenbar schon vergessen – wohl weil es nicht nötig war, einigen hunderttausend Haushalten für ein paar Stunden den Strom abzustellen. Vielmehr gilt das Stromabkommen heute als innenpolitische Hypothek, weil für die Gewerkschaften die vorgesehene Wahlfreiheit für alle Konsumenten zwischen Grundversorgung und freiem Markt schon zu viel Liberalisierung ist. So will der Bundesrat das Stromabkommen in einem separaten Bundesbeschluss vorlegen.
Ein Scheitern des EU-Vertrags an der Urne würde kaum über Nacht zu einer Abwanderungswelle bei den Firmen führen. Gewisse Unternehmen würden neue Investitionen eher ausserhalb der Schweiz tätigen, doch die Wirkungen wären wohl erst mittel- bis längerfristig breiter spürbar. Das erschwert die Überzeugungsarbeit der Befürworter. Am ehesten könnte eine schwere Rezession in der Schweiz das Klima im Europadossier verändern, doch eine Rezession kann sich niemand wünschen.
Skeptischer Blick nach Brüssel
Für manche Gegner zielt der Vertrag auf das Gemüt. Er «droht» mit engerer Anbindung der Schweiz an die EU – an ein Kollektiv, das sich wirtschaftlich schwertut und am ehesten im Fach Überregulierung Weltklasse ist. Ein grosser Stein des Anstosses ist die vorgesehene «dynamische Rechtsübernahme»: Ändert die EU in den Bereichen der bilateralen Binnenmarktabkommen ihre Regeln, sollte die Schweiz dies übernehmen. Tut sie das nicht, kann die EU Sanktionen ergreifen.
In Wirtschaftskreisen sorgt die Regulierungslust der EU für grosse Skepsis. Für den Economiesuisse-Präsidenten Christoph Mäder ist es «matchentscheidend», dass der EU-Vertrag eine Ausdehnung der EU-Regulierung auf neue Bereiche, die nicht durch das bilaterale Vertragspaket abgedeckt sind, «wasserdicht» verhindert. Laut Bundesangaben ist dies so. Doch Mäder will zuerst die Vertragsdetails sehen, bevor er ein schlüssiges Urteil abgibt.
Immerhin: Laut Mäder sehen die Economiesuisse-Mitglieder den EU-Vertrag im Grundsatz «grossmehrheitlich» positiv. Mitglieder sind rund hundert Branchenverbände und etwa zwanzig Handelskammern.
Viele Arbeitgeber profitieren im Prinzip vom Zugang zu EU-Arbeitskräften, doch sogar Economiesuisse hatte eine Schutzklausel zur Einwanderung gefordert. Die Schweiz hat eine solche von der EU erhalten, aber die Umsetzung ist noch unklar.
Klar ist: Jenseits der Flüchtlingspolitik ist die wirksamste Massnahme zur Reduktion der Einwanderung eine Schädigung der Wirtschaft. Je schlechter die Wirtschaft läuft, desto kleiner wird der Einwanderungssog. Und floriert die Wirtschaft auch ohne EU-Vertrag, wird die Einwanderung kaum zurückgehen.
Manche Firmen sehen den Vertrag mit Skepsis. So sind die Mitglieder des Gewerbeverbands gespalten. Laut Verbandsangaben sind rund vierzig Prozent der Mitglieder exportorientiert, und sechzig Prozent sind inlandorientiert. Die Firmen der zweitgenannten Gruppe sehen tendenziell eher die Nachteile als die Vorteile des EU-Vertrags. Zu den genannten Nachteilen gehören Befürchtungen über die Rückwirkung von EU-Zusatzregulierungen auf die Schweiz und im Einklang mit den Gewerkschaften Zweifel an den Lohnschutzregelungen. In einem künftigen Abstimmungskampf dürfte der Gewerbeverband kaum zu den glühenden Befürwortern zählen.
Auch im Verband Swiss Holdings, dem rund 65 internationale Industrie- und Dienstleistungskonzerne angehören, scheint sich der Enthusiasmus für den EU-Vertrag in engem Rahmen zu halten. Auch in diesen Kreisen sorgt dem Vernehmen nach die hohe EU-Regulierungsdichte für einige Skepsis. Viel Herzblut für den EU-Vertrag ist dort ebenfalls nicht zu spüren.
Nicht zu jedem Preis
Immerhin geht es bei der Ausmarchung zwischen den Sozialpartnern zum Lohnschutz ein Stück vorwärts. Die Gewerkschaften wollen sich ihre Zustimmung zum EU-Vertrag durch Konzessionen der Arbeitgeber bezahlen lassen. Sie haben indes diverse Forderungen, die nichts mit dem EU-Vertrag zu tun haben, zurückgenommen – wie etwa zum generellen Ausbau des Kündigungsschutzes oder zur Erhöhung der Kinderzulagen.
Economiesuisse bekräftigte am Dienstag die Haltung der Unternehmerseite: Man lasse mit sich reden über Lohnschutz-Massnahmen, die Aufweichungen als Folge des EU-Vertrags abfedern sollten, aber «sachfremde» neue Regulierungen kämen nicht infrage. Sachfremd ist zum Beispiel die Forderung nach einem speziellen Kündigungsschutz für Gewerkschafter. Auch generelle Erleichterungen der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen lehnen die Unternehmensverbände ab. Ihre Botschaft: Die Aufgabe der noch relativ liberalen Arbeitsmarktregeln wäre ein zu hoher Preis für den EU-Vertrag.