Montag, November 17

Der Bundeskanzler sieht sich nach der Vertrauensfrage als Herr der Lage, so der Zeithistoriker. Oppositionsführer Friedrich Merz habe leichtfertig einen Trumpf aus der Hand gegeben.

Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Montag dem Parlament die Vertrauensfrage gestellt. Die Abgeordneten entzogen ihm das Vertrauen und machten den Weg zu Neuwahlen frei.

Der Politikwissenschafter Klaus Schroeder beobachtet die deutsche Politik seit Jahrzehnten. Im Gespräch mit der NZZ erklärt er, welches Kalkül der Kanzler mit diesem Schritt verfolgt und wie es nach der Vertrauensfrage weitergeht.

Herr Schroeder, die meisten Abgeordneten haben dem deutschen Kanzler Olaf Scholz das Vertrauen entzogen. Wie geht es jetzt weiter?

So, wie es Scholz mit der oppositionellen CDU-CSU-Fraktion ausgehandelt hat: Erst löst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Bundestag auf, dann wählen die deutschen Bürger am 23. Februar ein neues Parlament, und die Fraktionen bilden eine neue Regierungskoalition.

Die sogenannte Vertrauensfrage ist eine eingespielte Prozedur. Der Kanzler muss sie mehrere Tage vorher beantragen. Wenn er sie stellt, spekuliert er darauf, dass ihm die Opposition das Vertrauen entzieht: Er will Neuwahlen. Und Scholz glaubt tatsächlich, dass die Bürger ihn wiederwählen. Er sagte, unter einem christlichdemokratischen Kanzler wolle er nicht Minister werden. Er kandidiert also sehr selbstbewusst für die SPD.

Wie wahrscheinlich ist seine Wiederwahl?

Gar nicht, wenn es nach den neusten Umfragen geht. Scholz hat gedacht, die Wähler würden es goutieren, dass er den FDP-Vorsitzenden Christian Lindner aus der Regierung entlassen hat. Sein Kalkül ist nicht aufgegangen. Nach CDU und CSU und der AfD landet die SPD auf dem dritten Platz.

Er ist aber nicht der erste Kanzler, der auf die Vertrauensfrage setzt und sich dabei verschätzt. Der frühere sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder handelte ähnlich, als er zuletzt die Vertrauensfrage gestellt hatte.

Das war 2005. Die SPD stand damals noch vergleichsweise gut da.

Sie hatte kurz zuvor in Nordrhein-Westfalen, Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland, die Wahl zum Landesparlament verloren. Also setzte Schröder alles auf eine Karte. Gewählt wurde schliesslich nicht er, sondern die Christlichdemokratin Angela Merkel.

Nach dem Ausstieg der FDP aus dem Kabinett hatte aber Scholz nicht mehr die Mehrheit im Parlament. Neuwahlen waren unausweichlich.

Die Opposition hätte allerdings eine andere Möglichkeit gehabt, Scholz mit sofortiger Wirkung aus dem Amt zu zwingen. Friedrich Merz und seine Fraktion aus CDU und CSU liessen sie ungenutzt verstreichen.

Nämlich?

Das konstruktive Misstrauensvotum. Mit diesem Verfassungsinstrument kann die Opposition den Vorsitzenden ihrer stärksten Fraktion zum Kanzler wählen. CDU und CSU haben sich das aber nicht getraut, weil sie dafür die Stimmen der AfD gebraucht hätten. Daher das unwürdige Schauspiel rund um den Wahltag und das Datum der Vertrauensfrage.

Zur Person

PD

Experte für Politik und Zeitgeschichte

Klaus Schroeder wurde 1949 in Lübeck geboren. Er leitete von 1992 bis 2024 den Forschungsverbund SED-Staat am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Gegenwärtig schreibt er an einem Buch zur Krise der deutschen Demokratie.

Warum hat sich das Merz nicht getraut?

Aus Angst, sich dadurch angreifbar zu machen. Sofort hätte es geheissen: Er hat sich von der AfD zum Kanzler wählen lassen. Das wollen die Christlichdemokraten und Christlichsozialen um jeden Preis vermeiden. Deshalb haben sie auch nicht ihren Antrag zur Zurückweisung illegaler Asylmigranten an den Grenzen eingebracht, obwohl sie eine grundlegende Wende in der Einwanderungspolitik versprechen.

Merz hält sich eine Koalition mit den Grünen und der SPD offen. Er sagt, eine Zusammenarbeit mit der AfD würde die CDU «umbringen».

Seine Skepsis gegenüber der AfD ist verständlich. Ihr Antiamerikanismus und ihre prorussische Einstellung sind für die Christlichdemokraten inakzeptabel. Aber die AfD auszugrenzen, hat sie nur noch stärker gemacht. Übrigens vertritt das Bündnis Sahra Wagenknecht die beinahe identischen aussenpolitischen Positionen. Damit hat die CDU anscheinend weniger Probleme.

Am liebsten würde Merz mit der FDP koalieren. Aber selbst wenn sie über fünf Prozent der Stimmen erreicht und in den Bundestag einzieht, reicht es wahrscheinlich nicht für eine absolute Mehrheit. Also macht er Zugeständnisse an Rot-Grün.

Jetzt ist die AfD in den Umfragen zweitstärkste Kraft. Bis zu 20 Prozent der Befragten können sich vorstellen, sie zu wählen.

Sie profitiert auch am stärksten von der Unzufriedenheit der Bürger. Denn die Wähler wissen: Das, was Merz jetzt verspricht – eine grundlegende Reform der Einwanderungspolitik und des «Bürgergelds», der extrem teuren und ineffizienten Transferleistung für Arbeitslose –, wird er mit Rot-Grün niemals umsetzen können.

Welchen Eindruck machte Scholz auf Sie während der Bundestagsdebatte am Montag?

Scholz spielte sein übliches Wahlkampfprogramm ab: Er will mehr Schulden aufnehmen, und er meint, er könne Arbeitsplätze retten, indem er die Industrie subventioniert. Das läuft auf einen Staatsdirigismus hinaus, der mit sozialer Marktwirtschaft nicht mehr viel zu tun hat. Und da war auch noch der Affront gegen Lindner, gleich zu Beginn seiner Rede.

Scholz warf dem ehemaligen Finanzminister vor, er habe der «Demokratie geschadet», weil er seine Politik nicht mehr mittragen wollte.

Eine Unverschämtheit sondergleichen. Dass die FDP auf mehr Markt und weniger Staat setzt, ist nicht nur eine legitime Position im demokratischen Wettbewerb. Die von ihr vorgeschlagenen Reformen sind auch wirtschaftspolitisch dringend geboten.

Und diese Wortwahl beunruhigt mich auch aus einem anderen Grund. Laut Umfragen ist nicht einmal mehr die Hälfte der Deutschen damit zufrieden, wie die Demokratie in Deutschland praktiziert wird. Der Kanzler drückt sich aus, als gäbe es diese Vertrauenskrise gar nicht.

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