Heer weiss, dass die Weltumseglung eine Herausforderung ist: Im Sommer in einer Qualifikations-Regatta verletzte er sich bei einer Kenterung und stand vor dem Nervenzusammenbruch. Beim Start zur Vendée Globe verabschiedete er sich auch von seinem Labrador.
Nach drei Tagen auf hoher See haben an der Vendée Globe die Solosegler den Golf von Biskaya verlassen und ihre Fahrt in Richtung Süden aufgenommen. Die drei Schweizer Teilnehmenden Justine Mettraux, Alan Roura und Oliver Heer reihten sich im Zwischenklassement gemäss ihren Stärken ein: Mettraux lag auf dem elften Platz, Roura und Heer belegten die Ränge 27 und 35.
Das wegen des dichten Schiffsverkehrs und den Fallwinden gefährliche Kap Finisterre umfuhren die drei mit sicherem Abstand, während einige der führenden Segler den kürzeren Weg nahe der Küste wählten. Die Bedingungen nach 48 Stunden waren rüd; bei 35 bis 40 Knoten Wind wurden die Seeleute und ihre Boote einem ersten Härtetest unterzogen.
Bilder und Emotionen des Abschieds dürften die Solosegler nicht mehr beschäftigen. 350 000 Zuschauer applaudierten am Sonntag in Les Sables d’ Olonne den 34 Skippern und 6 Skipperinnen, als sie über den Schwimmsteg zu ihren Booten gelangten, um anschliessend durch den langen Kanal auf dem offenen Meer die Startlinie zu erreichen. Auf dem Steg gab es Vorgänge, wie man sie von der Kinoleinwand kennt: Überall lange Umarmungen, letzte Küsse, viele Tränen. Heer befand sich in Begleitung seines schwarzen Labradors, von dem er sich auch verabschieden wollte.
Er überstand ein Unglück – und wurde gleichzeitig in die Bredouille gebracht
Der Start am Sonntag verlief wegen des schwachen Windes wenig spektakulär. Noch bis in die Abendstunden waren von Les Sables d‘Olonne aus am Horizont die Rennjachten auszumachen. Die Armada blieb zunächst zusammen, bevor sie sich in der Nacht auseinanderzog.
Heer, der sich in den ersten Stunden in der Spitze aufhielt, immer in der Nähe der Genferin Mettraux, wurde mit zunehmendem Wind erwartungsgemäss nach hinten durchgereicht. Zeitweise lag er auf dem letzten Platz, weil er sich wie andere Segler mehr westlich hielt. Ohne Foils und mit einem relativ alten Boot muss sich der St. Galler bei seiner ersten Vendée Globe primär auf sich konzentrieren, ohne gross auf die Konkurrenz zu schauen. Einen Deutschschweizer an dieser Weltumsegelung: Das hatte es bisher noch nie gegeben.
Die Frage, wie sich der 36 Jahre alte Rapperswiler vor der Fahrt in eine unbekannte und nicht ungefährliche Welt fühlte, konnte sein Mentalcoach Wolfgang Jenewein beantworten. Einen Tag vor dem Start führte Heer auf seinem Boot ein längeres Gespräch mit ihm, dem Inhaber eines Unternehmens für Leadership- und Organisations-Entwicklung. Der Deutsch-Österreicher ist auch der Mentalcoach des Skirennfahrers Aleksander Aamodt Kilde und des FC-Barcelona-Trainers Hansi Flick.
Heer sei nervös, das sei durchaus normal, berichtete Jenewein – und es wäre schlimm, wenn dem nicht so wäre. Die Aufregung und der Druck seien ein Zeichen, dass ihm das Projekt wichtig sei. Jenewein, Titularprofessor an der Universität St. Gallen, riet Heer, er solle die Nervosität aufnehmen, um daraus positive Energie zu ziehen.
Jeneweins Beratung hat Heer auch schon vor einem grösseren Unglück bewahrt – und ihn gleichzeitig in die Bredouille gebracht. Der Segler war im Sommer an einer Qualifikations-Regatta wegen eines plötzlichen Defekts des Autopiloten gekentert. Wasser drang ins Boot ein, die gesamte Elektronik stieg aus, Heer wurde herumgeschleudert und erlitt leichte Verletzungen.
In dieser prekären Situation organisierte seine Landcrew einen Kontakt zu Jenewein, der Heer Mut zusprach und ihm empfahl, sich der Situation zu stellen. Diesen Zuspruch sah die Rennorganisation als unerlaubte Hilfeleistung an und leitete gegen den Schweizer ein Verfahren ein. Die internationale Jury sprach Heer jedoch frei; die beiden Anrufe seien keine leistungsfördernde Massnahme gewesen, sondern eine sicherheitsrelevante und medizinisch bedingte Hilfeleistung.
Wie Jenewein der NZZ sagt, sollten solche Hilfeleistungen für die Segler, die zum Teil extremen Situation ausgesetzt sind, möglich sein. Heer habe damals kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden, in diesem Zustand habe er ihn noch nie erlebt.
Jenewein fährt fort, es sei eine harte Intervention gewesen, er habe seinem Klienten klar gemacht, dass er aufhören müsse, nachzudenken, warum dies passiert sei und was noch passieren könne. Er sei im Hier und Jetzt und müsse die Situation «radikal akzeptieren», diesen «fucking shit» umarmen und nach Lösungen suchen. Für ihn existiere in den Weiten des Atlantiks keine Möglichkeit, einfach aufzuhören und auszusteigen.
Für 800 000 Franken konnte das als Start-up-Unternehmen gegründete Team eine Jacht kaufen
Ähnlich wie der Genfer Alan Roura vor acht Jahren ist Oliver Heer wie aus dem Nichts an der Vendée Globe aufgetaucht. Als Bootskapitän des britischen Seglers Alex Thomson, der fünf Mal an dieser Weltumsegelung teilnahm und zwei Podestplätze erreichte, konnte Heer in anderen Regatten Erfahrungen im Offshore-Segeln sammeln. Thomson war es auch, der Heer zu einer Teilnahme an der Vendée Globe ermunterte.
Doch erst nach der Zusage seiner Mutter und seiner Frau entschloss sich Heer für eine Kampagne, die er bewusst im Namen der Swissness führen will. Praktisch alle Sponsoren stammen aus der Schweiz; der Hauptsponsor ist ein Unternehmen aus der Gesundheitsbranche mit Sitz in Rapperswil, wo Heer einst segeln lernte.
Eine Supporter-Vereinigung (Club 100), aus der jeder einen Mindestbetrag von 1000 Franken leistete, sorgte für eine finanzielle Grundlage, damit Heer die Anfangszeiten seines Projekts überbrücken konnte. Für 800 000 Franken konnte das als Start-up-Unternehmen gegründete «Team Oliver Heer Ocean Racing» eine fast zwanzig Jahre alte, aber bewährte Open-60-Jacht kaufen.
Heer ist bei der zehnten Austragung des Rennens einer von 15 Debütanten an der Vendée Globe. Die französische Offshore-Szene, die ihn von seinem Engagement bei Thomson her kennt, hat es offenbar sehr geschätzt, dass Heer den Sitz seiner Kampagne in Frankreich aufbaute. Er sei im Umfeld der Weltumsegelung sehr gut aufgenommen worden, heisst es.
Heer, das gibt er zu, hat bereits eine zweite Vendée-Globe-Teilnahme im Hinterkopf. Er sagt, er sei noch relativ jung und wisse ein gutes Team hinter sich. Doch vorerst stehe ein anderes Ziel im Vordergrund, das recht nüchtern klingt: Heer will «eine sportlich solide Leistung abliefern».