Dienstag, April 15

Mehr als 30 Jahre lang hat der Zürcher Arzt Gregor Berger die Therapiemöglichkeiten des hochgejubelten Fisch- oder Algenöls gegen Depression oder Psychosen untersucht. Nun zeigt sich: Ihre Wirkung wird überschätzt – auch bei Krebs oder Demenz.

«Die ersten Studien zum Einsatz von Omega-3-Fettsäuren gegen psychiatrische Erkrankungen klangen so positiv», berichtet Gregor Berger, heute Chef des Notfallzentrums an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Damals, Ende der 1990er Jahre, war er ein junger Assistenzarzt. Es hat gefunkt zwischen ihm und den kleinen Molekülen. «Ich wollte diesen Fettsäuren zum Durchbruch in der Medizin verhelfen. Aber daraus wurde eine lebenslange Irrfahrt.»

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Berger, kurze graumelierte Haare hinter einer hohen Denkerstirn und weiss gesprenkelter Bart, lächelt freundlich. Unaufgeregt erzählt er. Warum ihn diese Moleküle in ihren Bann zogen. Wie sie ihn dann über die Jahre hinweg immer wieder enttäuschten. Trotzdem ist er nicht verbittert. Nur traurig, dass er nun mit nahezu leeren Händen dasteht.

Die Begeisterung begann mit Beobachtungen der Inuit

Seine Geschichte ist auch diejenige einer Begeisterung, die vor über dreissig Jahren weltweit aufflammte: Die langkettigen Fettsäuren mit den sperrigen Namen Eicosapentaensäure (EPA) und Docosahexaensäure (DHA) sollten zahllose Therapiemöglichkeiten eröffnen. Rund um den Erdball wurden Millionen an Forschungsgeldern für sie lockergemacht. Aber eine Erfolgsgeschichte wurde es nur für Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln, nicht für Patienten.

Die ersten Hinweise über eine gesundheitsfördernde Wirkung von Omega-3-Fettsäuren kamen von Untersuchungen an Inuit. Trotz einer recht einseitigen und zudem sehr fettreichen Ernährung war nicht nur ihr Herz gesünder als das vieler Europäer. Die Menschen im hohen Norden erkrankten auch seltener an Schizophrenie. Die Ursache schien gefunden, als man in ihrem Blut ausserordentlich hohe Konzentrationen von Omega-3-Fettsäuren, vor allem EPA und DHA, fand.

Diese Moleküle sehen jeweils aus wie zackenförmige Kettchen mit einer Perle an einem Ende. Sie zählen zur Gruppe der langkettigen ungesättigten Fettsäuren. Unser Körper kann EPA und DHA nicht selber herstellen, benötigt sie aber dringend für den Aufbau der Hülle aller Körperzellen. Diese Omega-3-Fettsäuren kommen vor allem in Algen und Fischen aus kalten Gewässern wie Lachs, Makrele oder Hering vor. Vorstufen der Fettsäuren DHA und EPA sind in grossen Mengen in manchen pflanzlichen Ölen wie Lein- oder Hanföl enthalten. Wer keinen Fisch isst, kann daher seinen täglichen Bedarf durch einen Esslöffel Lein- oder Rapsöl oder Leinsamen und Nüsse decken.

Weitere Untersuchungen schürten den Hype um Omega-3-Fettsäuren. Eine Ernährung mit viel Fisch und pflanzlichen Ölen minderte das Risiko für Entzündungen. In Zellkulturstudien dämpften die speziellen Fettsäuren Entzündungen und verbesserten die Arbeit der Nervenzellen. Und wenn in kleinen Pilotstudien mit wenigen Teilnehmern die Patienten mit einer beginnenden Schizophrenie Fischölkapseln einnahmen, dauerte es viel länger als in der Placebo-Gruppe, bis sie ein Psychopharmakon benötigten. Auch bei einigen Patienten mit Depression wurden Erfolge gemeldet.

«Unser Gehirn ist eigentlich ein Fettklumpen», sagt der Arzt Gregor Berger und schmunzelt. Millionen feinster Nervenzellen ballen sich da zusammen, und alle haben eine Hülle mit sehr vielen Fettsäuren. «Also von daher erschien es mir logisch, dass der fischdominierte Speisezettel der Inuit mit viel Omega-3-Fettsäuren das Gehirn vor Schäden schützt.»

Angespornt von den positiven Resultaten führte Berger 1999 seine Forschungen zu Omega-3-Produkten gegen psychische Erkrankungen in Australien fort. «Wir warben mehr als eine Million Dollar Fördergelder von einer internationalen Stiftung ein, deren Ziel die Bekämpfung von Schizophrenie war», erzählt er, und bei der Erinnerung leuchten seine Augen. «Wir wollten herausfinden, ob Omega-3-Fettsäuren die Entwicklung psychotischer Erkrankungen im Frühstadium verzögern könnten.»

Behandelt wurden mehr als zweihundert Patienten in mehreren Orten weltweit. Sie bekamen sechs Monate lang Fischölkapseln und wurden zwölf Monate beobachtet. Doch die Enttäuschung war gross: Die Probandinnen und Probanden waren weder geheilt, noch zeigte sich eine Verbesserung beim Verlauf ihrer Psychose.

Berger gab nicht auf und forschte weiter. Denn viele psychische Erkrankungen sind schwer behandelbar. Gut verträgliche Mittel, die die Entwicklung schwerer Formen verhindern, werden dringend benötigt. Als er 2006 wieder zurück in die Schweiz kam, führte er eine neue klinische Studie mit Omega-3-Produkten durch; diesmal wollte er deren Wirkung bei depressiven Kindern und Jugendlichen untersuchen. Das Ergebnis war wieder ein Rückschlag. Es gab nur einzelne individuelle Verbesserungen, aber keine signifikante Verbesserung im Vergleich zur Placebo-Gruppe.

Nicht nur Psychiater hatten grosse Hoffnungen in die Molekülkettchen gesetzt. In Hunderten von Studien wurden Fischölkapseln oder ähnliche Omega-3-Produkte gegen Herzbeschwerden, Krebs, Demenz oder Autoimmunerkrankungen erprobt.

Doch für all die erwartungsfrohen Ärztinnen, Forscher und Probanden gab es eine kalte Dusche nach der anderen. Nie konnte ein wirklich grosser und durchschlagender positiver Effekt für alle Behandelten festgestellt werden. Immer profitierten nur Einzelne, und meist nur wenig. So wurde kürzlich von Schweizer Forschern gemeldet, dass Omega-3-Kapseln das Altern im Beobachtungszeitraum von drei Jahren um bis zu drei Monate hinauszögern. Allerdings nur im Zusammenspiel mit Vitamin-D-Pillen und zugleich mehreren Sporteinheiten pro Woche.

Kaum eine Wirkung von Fischölkapseln ist bewiesen

Grosse Übersichtsstudien, in denen jeweils alle verfügbaren Daten zur Behandlung einer bestimmten Erkrankung mit Omega-3-haltigen Mitteln analysiert wurden, kamen in den letzten Jahren zu dem Schluss, dass es bestenfalls Hinweise dafür gibt, dass Produkte mit diesen Fettsäuren bei den erwähnten Leiden helfen.

Unklar ist auch, wie gross ein schützender Effekt ist, ob also eine regelmässige Einnahme von Omega-3-Fettsäuren in Kapselform eine Erkrankung verhindern kann. Auch diesbezüglich konnten zahlreiche Studien keine eindeutigen Ergebnisse liefern. So mindern Omega-3-Tabletten das Risiko für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung oder einen Schlaganfall – wenn überhaupt – nur geringfügig. So müssten 170 Menschen über Jahre hinweg Omega-3-Kapseln schlucken, damit ein einziger Herzinfarkt verhindert wird. Ebenso wenig konnten die Mittel Leben verlängern oder eine Psychose verhindern.

2021 kam dann eine weitere Hiobsbotschaft dazu: Bei Patienten mit bestehenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen solche Produkte das Risiko für Herzrhythmusstörungen. Also gerade bei jenen Menschen, die wegen ihrer Herzbeschwerden diese Mittel nehmen in der Hoffnung, sie täten sich etwas Gutes damit, können diese Produkte schaden.

Omega-3-Produkte reduzieren manche Blutfette

Heute halten Experten nur eine Wirkung von Omega-3-Produkten für eindeutig bewiesen: Nimmt man sie regelmässig, so reduzieren sich manche Blutfettwerte.

«Mich haben all die Studien und Tests eines gelehrt», sagt Berger. «Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel sind absolut nicht dasselbe. Lebensmittel wirken ganz anders als Pulver und Kapseln.» Viel Lachs und Makrele auf dem Teller sei nicht durch Omega-3-Kapseln zu ersetzen. Ausserdem kann nach wie vor niemand sagen, ob es nur die Omega-3-Fettsäuren sind, welche die Herzen der Inuit gesund halten.

Aber der Arzt hat den Glauben daran, dass Omega-3-Fettsäuren medizinisch eingesetzt werden können, noch nicht ganz aufgegeben.

Welchen Menschen Omega-3-Produkte helfen könnten

«Mich lässt die Tatsache nicht los, dass in vielen Studien manche Menschen eben doch davon profitiert haben», erklärt er. Er unterstreicht nun seine Sätze mit lebhaften Handbewegungen, spricht schneller, fährt mit dem Stuhl vor und zurück. Plötzlich blitzt der enthusiastische Jungarzt auf.

Berger hat zwei Vermutungen: So könnte es sein, dass manche Menschen einen eklatanten Mangel an diesen wichtigen Molekülen aufweisen. Vielleicht sei das genau die Subgruppe, die von der Einnahme von Kapseln zumindest etwas profitiere. Möglicherweise sei es mit den Omega-3-Fettsäuren ähnlich wie mit Eisen: Der Körper brauche eine gewisse Menge, sonst werde er krank. Aber zu viel davon sei auch nicht gut.

Hoffnung Nummer zwei: Omega-3-Fettsäuren helfen Menschen, die eine psychiatrische oder auch eine andere Erkrankung und zudem eine Entzündung haben, eventuell auch eine kleine, die sie eigentlich gar nicht bemerken. Es gibt nämlich Hinweise, dass manche Patienten mit einer Depression auch erhöhte Entzündungswerte im Blut aufweisen. Berger stellt dieselbe Frage wieder: Ist das vielleicht die Subgruppe, die von Fischölkapseln profitiert? Auch auf die Gefahr hin, erneut enttäuscht zu werden – das möchte er zum Abschluss seiner Wissenschafterkarriere noch gerne erforschen.

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