Erich Wolfgang Korngolds «Die tote Stadt» ist ein Opernkrimi, aber auch eine subtile Warnung vor zu viel Lust an der Vergangenheit. Leider begnügt sich Dmitri Tcherniakov bei seiner Neuinszenierung am Opernhaus nicht mit dem komplexen Geschehen.

Die Vergangenheit ragt mächtig hinein in unsere Gegenwart. Bei jeder Gelegenheit begegnen wir ihr, etwa in Gestalt von Denkmälern oder architektonischen Zeugnissen aus früheren Jahrhunderten – noch viel machtvoller aber in der Form von Erinnerungen. Der Mensch lebt mit und von seinen Erinnerungen, er ist vermutlich das einzige Lebewesen, das sich Erlebtes derart umfassend vor Augen rufen kann. Deshalb erzählen wir selbst unsere Vergangenheit immer wieder neu und setzen dabei, je nach Lebensalter und Befindlichkeit, wechselnde Akzente: Manches gewinnt mit der Zeit an Bedeutung, anderes versinkt im Vergessen. Was aber geschieht, wenn die Vergangenheit übermächtig wird und sich so stark in die Gegenwart drängt, dass die Grenzen zwischen Realität und Erinnerung verschwimmen?

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Erich Wolfgang Korngolds Musikdrama «Die tote Stadt» bringt dieses faszinierende Thema auf die Bühne und denkt es mit radikaler, nämlich blutiger Konsequenz zu Ende. Korngold entwirft das Psychogramm eines Menschen, der regelrecht gefangen ist in seiner Vergangenheit: Gegenwärtiges und Gewesenes überlagern sich in seiner Wahrnehmung, mit fatalen Folgen. Das Stück, einer der wenigen echten Opernkrimis der Musikgeschichte, wurde nach seiner parallelen Uraufführung in Hamburg und Köln 1920 zu einem Welterfolg, der zugleich Korngolds Ruf als grösstes musikalisches Wunderkind seit Mozart und Mendelssohn untermauerte – der Komponist war seinerzeit erst Anfang zwanzig.

Geblieben ist von dem einstigen Weltruhm nach 1945 wenig. Korngold, der im Exil in den USA zum Vater der sinfonischen Filmmusik wurde, deren Ton und Ästhetik bis heute in Hollywood-Filmen nachklingt, konnte nie wieder an die Erfolge seiner frühen Jahre anknüpfen. Lange Zeit kannte man auch von der «Toten Stadt» nur zwei Ohrwürmer, die ihren Platz in Opernwunschkonzerten behaupteten: das Lied «Glück, das mir verblieb», um dessen Melodie sogar Puccini den Wunderknaben beneidete, und das ähnlich nostalgisch getönte Arioso «Mein Sehnen, mein Wähnen, es träumt sich zurück». Erst seit der Jahrtausendwende erlebt auch die dazugehörige Oper eine bemerkenswerte Renaissance. Sie hat erwiesen, dass das Stück mehr ist als ein effektvoller Schocker. Die Oper Zürich will diese Neubewertung nun mit einer eigenen Produktion fortschreiben.

Inszenierte Auferstehung

Die Neuinszenierung, bei der Dmitri Tcherniakov sowohl die Regie wie auch das Bühnenbild verantwortet, ist bereits Teil einer fortgeschrittenen Deutungstradition, bei der es nicht mehr vorrangig darum geht, das vernachlässigte Werk überhaupt wieder für die Bühne zu erschliessen. Tcherniakov will seine eigene Sicht auf das komplexe Bühnengeschehen einbringen. Das ist im Regietheater üblich, führt bei diesem Stück aber vorhersehbar zu Problemen.

Eigentlich ist die Handlung der «Toten Stadt», die Korngold und sein Vater Julius nach Vorlagen des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach adaptierten, nämlich als handfeste Warnung vor zu viel Vergangenheitsnostalgie gedacht. Der Witwer Paul erlebt in Brügge, der toten Stadt des Titels, ein klassisches Reenactment – ähnlich wie später die Figur des Scottie in Hitchcocks «Vertigo». Paul glaubt, in der Gestalt der Tänzerin Marietta seiner verstorbenen Frau Marie wiederzubegegnen, denn ihr gleicht Marietta bis aufs Haar. In einem «Traum der Wiederkehr» will er sein verlorenes Glück ein zweites Mal durchleben.

Doch die inszenierte Auferstehung der toten Marie wird zum Albtraum, je mehr Pauls verklärtes Bild der «reinen» Gattin in Widerspruch gerät zum diesseitigen und promisken Leben der Tänzerin. Dass er Maries vermeintliche Wiedergängerin auf dem Höhepunkt seiner Vision erdrosselt, bringt Paul schlagartig zurück auf den Boden der Realität: Er erkennt, gerade noch rechtzeitig, dass es eine Auferstehung für Normalsterbliche in dieser Welt nicht geben kann, und will die «Stadt des Todes» verlassen.

Dmitri Tcherniakov hält in Zürich allerdings nichts von dieser hoffnungsvollen Schlusswendung des Originals. Bei ihm bleibt Paul gefangen in seinen neurotischen Wiedererweckungsphantasien. Folgerichtig begegnet Paul im Verlauf der drei Akte nicht einer, sondern mindestens drei verschiedenen Frauen, die er allesamt nach dem Ebenbild der toten Marie zu formen sucht. Da sie dieser jedoch immer erst im Tod «ganz gleichen», wie er in seinem Wahn meint, wird Paul zum Serienmörder.

Ein Vorspann vor dem eigentlichen Beginn der Oper deutet überdies mithilfe zweier Dostojewski-Fragmente an, dass schon Marie, angeblich erst sechzehnjährig, keines natürlichen Todes gestorben sein könnte. Diese Lesart, die Paul zum Psychopathen macht, ist bei der «Toten Stadt» unterdessen gängig geworden. Sie kollidiert aber jedes Mal mit dem lichteren Schluss, der immerhin der Hauptfigur ein Erwachen aus dem Albtraum, also Selbsterkenntnis zugesteht. Bei Tcherniakov bleibt Paul dagegen für immer eingeschlossen in seinem seelischen Kokon, auch viele weitere Handlungsstränge laufen in Ermangelung einer klaren szenischen Lösung ins Leere.

Kontrapunkte zur Regie

Das ist auch deshalb unbefriedigend, weil die Zürcher Aufführung mit Eric Cutler über einen Tenor verfügt, der die buchstäblich mörderische, in der Höhe extrem exponierte Partie des Paul nicht bloss singen kann – Cutler gestaltet die Rolle auch als differenzierte Charakterstudie eines seelisch labilen Menschen, der Hilfe, nicht Verurteilung benötigen würde. Das einseitige Negativbild der Regie steht dem entgegen. Umso beeindruckender, dass sich Cutler davon bei seinem Debüt kaum irritieren lässt: Er behält seine nuancierte, auch in den stimmlichen Mitteln vorbildlich abgewogene Konzeption bis zum Ende bei, als wollte er geradezu einen Kontrapunkt zur Regie setzen – und wird vom Publikum einhellig gefeiert.

Noch schwerer macht es die Regie der Sopranistin Vida Miknevičiūtė. Die litauische Sängerin muss hier nicht allein die vorgeschriebene Doppelrolle als Marie und Marietta bewältigen, sondern insgesamt vier Frauengestalten unterschiedlichen Alters und Erscheinungsbildes (Kostüme: Elena Zaytseva) verkörpern. Ein konsistentes Rollenporträt ist unter diesen Umständen nicht zu entwickeln, und so scheint sich auch Miknevičiūtė mehr auf die Ausdruckskraft ihrer fokussierten, gelegentlich etwas herben Stimme zu verlassen als auf die diffusen Vorgaben der Regie.

Dass der Abend bei derart starken Fliehkräften nicht auseinanderfällt, ist Lorenzo Viotti am Pult der Philharmonia zu verdanken. Viotti verdeutlicht, dass Korngold alle szenischen Vorgänge schon hier mit der bezwingenden Präzision vertont, die auch seine späteren Filmpartituren auszeichnet: Das gesamte Geschehen ist gleichsam in einem beredten Soundtrack aufgehoben. Und Viotti nimmt sich gerade im ersten Akt ungewöhnlich viel Zeit, um die überbordende Vielstimmigkeit der virtuos orchestrierten Partitur in herrlichen Details auszugestalten.

Die Dichte der Klangereignisse führt allerdings zu einer Dominanz des Orchesters; erst im zweiten Teil normalisiert sich die Balance. Wie im Fall der Regie zeigt sich: Korngolds «Tote Stadt» wirkt am eindringlichsten, wenn sich die Interpreten mit eigenen Zutaten zurückhalten und das Werk für sich sprechen lassen. Was die Oper zu erzählen hat, ist aufregend genug.

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