Mittwoch, März 12

Adele Thomas zeigt eine durch und durch traditionelle Inszenierung von «Un ballo in maschera» am Opernhaus. Gerade dadurch lädt sie die Besucher ein, Bezüge zur Gegenwart herzustellen.

Politiker brauchen die Bühne der Öffentlichkeit. Dementsprechend spielen sie, sobald das Licht der Scheinwerfer und der medialen Beachtung auf sie fällt, in der Regel eine gut einstudierte Rolle. Denn kaum jemand redet auf dieser Bühne so frei von der Leber weg wie am berüchtigten Küchentisch. Es geht vielmehr darum, die Illusion zu vermitteln, man habe die Lage, komme, was wolle, jederzeit im Griff. Gerade Populisten nutzen das Rollenspiel geschickt, um mit perfekten Selbstinszenierungen ihre Wirkung aufs wählende Publikum zu steigern.

Wer indes schon einmal Gelegenheit hatte, einen Spitzenpolitiker im privaten Rahmen ohne Scheinwerfer und neugierige Mikrofone zu erleben, weiss: Hinter der öffentlich vorgezeigten Maske existiert gleichsam noch ein zweiter Mensch, der sich oft ganz anders gibt und gelegentlich auch anders redet. Wenn sich in den kommenden Jahren nun wieder Heerscharen von Analysten und selbsternannten Trump-Verstehern darum bemühen werden, hinter die Fassade dieses genialischen Politdarstellers zu schauen, geht es genau darum: Schein und Sein, Inszenierung und echte Überzeugungen so weit als möglich zu trennen.

Die Erfahrung, dass Menschen der Welt unterschiedliche Gesichter präsentieren können, ist allerdings viel älter als das Phänomen Trump. Es war auch schon einmal Thema einer hochpolitischen Oper, die das Aufeinandertreffen von Schein und Sein sogar im Titel trägt: Giuseppe Verdis «Un ballo in maschera». Das Opernhaus Zürich hat den «Maskenball» nun nach längerer Pause wieder auf den Spielplan gesetzt. Sehr vorausschauend, möchte man meinen. Das Irritierende an dieser Neuproduktion ist freilich, dass sie konsequent auf alle Durchblicke und Bezüge zur Gegenwart verzichtet.

Provozierend werktreu

Die britische Regisseurin Adele Thomas, die 2021 in Zürich schon Verdis «Troubadour» auf die Bühne gebracht hat, hält sich in ihrer Lesart strikt an die Vorgaben des Textbuchs. Die Handlung spielt in Boston, nicht in Stockholm; sie behält also die 1858 von der römischen Zensur erzwungene Verlegung des Geschehens nach Amerika bei. Der Tenor-Held, ursprünglich König Gustav III. von Schweden, der 1792 auf dem titelgebenden Maskenball von Verschwörern ermordet wurde, heisst hier dementsprechend Riccardo und ist der charismatische Gouverneur von Boston. Er ist aber gerade kein Vorläufer oder Wiedergänger von Trump, Obama oder Kennedy.

Dass Thomas diese Steilvorlage des Librettos links liegenlässt, kann man nachvollziehen – sie wäre wohl schlichtweg zu platt. Aber was bietet sie stattdessen? Eine handwerklich sehr gekonnte Umsetzung des Operngeschehens aus dem Geist der angelsächsischen Theatertradition, also fast ohne interpretierende Zutaten. Nach der jahrzehntelangen Vorherrschaft des Regietheaters, das sich teilweise weit von den Vorgaben der Werke entfernt, ist das fast schon eine Provokation, jedenfalls höchst ungewohnt. Aber reicht es auch, um die historische Kunst- und Darstellungsform Oper zum Leben zu erwecken?

Es reicht, um die Hauptfiguren und das Geflecht ihrer privaten Beziehungen anschaulich zu machen. Riccardo, von Charles Castronovo im Laufe des Abends immer freier und mit der Leidenschaft eines charismatischen Anführers gesungen, wird auch hier als Politiker mit zwei Gesichtern erkennbar. Einerseits macht er sich gern zum Sprachrohr seiner Anhänger, wenn es beispielsweise darum geht, die unheimliche Wahrsagerin Ulrica (Agnieszka Rehlis) vermeintlich falscher Prophezeiungen und des Irrationalismus zu überführen. Andererseits verhält er sich persönlich nicht weniger irrational, wenn er wider alle Vernunft eine Affäre mit Amelia beginnt, der Frau seines besten Freundes Renato.

Die Regie arbeitet auch die tödliche Dynamik dieser Dreiecksbeziehung klar heraus – und damit den Umstand, dass der Politiker Riccardo nicht an den Folgen seiner Politik scheitert, sondern an Verfehlungen im Privaten. Eine simple moralische Verurteilung Riccardos durchkreuzt wiederum Verdis Musik: Er hat ihm und Amelia eines seiner packendsten und längsten Liebesduette zugestanden. Castronovo und Erika Grimaldi führen darin eindringlich vor Ohren, wie die anfangs noch mühsam gezügelte Leidenschaft mehr und mehr durchbricht und schliesslich alle Bedenken hinwegfegt.

Grimaldi überzeugt bei ihrem Rollendebüt auch in den grossen Arien ihrer Partie, von wenigen verspannt klingenden Spitzentönen abgesehen. Weniger überzeugend wirkt dagegen Adele Thomas’ Idee, das Liebesduett vor der unattraktiven Rückwand des Einheitsbühnenbildes, eines kreisenden Pavillons, spielen zu lassen. Hier zeigt sich, was die Regie mit ihrer streng immanenten Sichtweise verschenkt: Es gäbe wahrlich originellere szenische Entsprechungen für die Urgewalt der Emotionen, die sich in der Musik Bahn brechen. Umso mehr, als Zürichs Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda hier – nach etwas fahrigem und zu lautem Beginn – mit der Philharmonia zu vollem Einklang mit seinen Protagonisten findet und das charakteristische Verdi-Brio zünden lässt.

Angebote zum Selberdenken

Im musikalisch insgesamt mit feinerem Stift gezeichneten zweiten Teil zeigt sich auch die Qualität von Thomas’ genauem Blick auf die Figuren. Besonders in der Auseinandersetzung zwischen Amelia und Renato, dessen Verwandlung vom betrogenen Freund zum fanatischen Attentäter in der Interpretation von George Petean bedrängend deutlich wird. Adele Thomas behält zudem einen Blick für das Schicksal der fortan mit äusserster Kälte behandelten Frau: Die geächtete Amelia wirkt hier wie eine Vorwegnahme von Fontanes Effi Briest.

Ob diese Assoziation im Sinne der Regie ist, bleibt offen. Adele Thomas gibt Hinweise, aber sie zwingt ihre Deutung den Zuschauern nicht auf. Auch nicht im Hinblick auf die schillernde, womöglich homoerotische Beziehung zwischen Riccardo und dem Pagen Oscar (Katharina Konradi), der immer wieder für ein kurzes Umkippen der Handlung ins Komische sorgt. Gerade indem die Regie bloss Angebote macht, lädt sie die Opernbesucher ein, sich selbst Gedanken zu machen. Damit wirkt sie unter ihrer vermeintlich werktreuen Oberfläche subversiver als jede vordergründige Aktualisierung.

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