Freitag, Oktober 4

Die EU will der Schweiz keine Ventilklausel zum Schutz gegen eine zu starke Zuwanderung gewähren. ¨Das hilft der Kompass-Initiative, die eine Annäherung an die Europäische Union verhindern will. Die Ausgangslage erinnert an 1992.

Alfred Gantner, Marcel Erni und Urs Wietlisbach haben ein gemeinsames Ziel: das geplante Abkommen mit der EU schon im Vorfeld zum Scheitern zu bringen oder wenigstens vom Ständemehr abhängig zu machen. Zu diesem Zweck gründeten sie die Organisation Kompass Europa. Unterstützt werden die drei schwerreichen Finanzdienstleister von SRF-Prominenten wie dem ehemaligen Skiass Bernhard Russi, Rocker Chris von Rohr, Moderator Kurt Aeschbacher und dem Zürcher Musiker Dieter Meier. Meier lässt sich im «Blick» mit folgendem Satz zitieren: «Das ist nicht mein Metier, da habe ich zu wenig Ahnung.» Russi sagt, er habe gar nicht gewusst, dass ein neues Abkommen angestrebt werde. Hinter dem Initiativbegehren könne er jedoch stehen. Von Rohr sagt, ihm liege das Thema auf dem Magen: «Ich habe im Leben schon genug schlechte Verträge unterschrieben.»

Kurt Aeschbacher sagt: «Die dynamische Rechtsübernahme verpflichtet uns, Gesetze zu übernehmen, die kaum zu unserer wirtschaftlichen DNA passen. Die vorgesehene Rolle des Europäischen Gerichtshofs, der ja die Interessen der EU zu vertreten hat, schränkt den Handlungsspielraum der Schweiz massiv ein. Wir müssen fürchten, mit drakonischen Strafen eingedeckt zu werden, wenn wir die Regelungen der EU nicht folgsam übernehmen.»

Der 75-jährige ehemalige TV-Moderator, der sich selbst als «leichtfüssigen Unterhaltungsjourni» bezeichnet, wird unterschätzt. Er ist auch Ökonom und Verleger. Unterschätzt wird auch die Initiative, die die Organisation Kompass Europa am Montag in Bern vorgestellt hat. Die meisten Journalistinnen und Journalisten, die über die Medienkonferenz schrieben, konzentrierten sich auf die weitgehend ahnungslosen prominenten Unterstützer und die Tatsache, dass die drei Hauptinitianten die Partners Group gegründet haben. Das global tätige Unternehmen ist auf die Verwaltung von Privatmarktanlagen spezialisiert. Im Jahr 2023 erzielte es einen Umsatz von 1,945 Milliarden Franken.

Die unterschätzte Initiative

Dabei hat es die Initiative mit dem barocken Namen «für eine direktdemokratische und wettbewerbsfähige Schweiz – keine EU-Passivmitgliedschaft» in sich. Sie will nämlich, dass völkerrechtliche Verträge, die eine Übernahme wichtiger rechtsetzender Bestimmungen vorsehen, zwingend dem obligatorischen Referendum unterstellt werden müssen. Es müssten also Volk und Stände Ja zu einem solchen Vertrag sagen.

Gemeint ist in erster Linie natürlich das geplante institutionelle Abkommen mit der EU, und deshalb haben die Initianten eine Vorwirkung eingebaut. Auch wenn die Initiative später an die Urne kommt als das Abkommen mit der Europäischen Union, kann der Bundesrat ein Volksbegehren mit über 100 000 Stimmen schwerlich ignorieren. Und dass die notwendigen Stimmen zusammenkommen, ist sicherer als das Amen in der Kirche. Dafür sorgen die Initianten mithilfe einer grossangelegten Profi-Kampagne.

Bis Ende Jahr sollen die Verhandlungen abgeschlossen sein. 2025 soll das Vertragswerk ins Parlament, und danach kommt es frühestens 2026 vors Volk. Bis vor kurzem war offen, ob ein Volksmehr reicht oder ob auch die Kantone Ja sagen müssen. Institutionelle Abkommen stellen weder einen Beitritt zu einer Organisation für kollektive Sicherheit noch zu einer supranationalen Gemeinschaft dar: Für diese zwei Fälle sieht die Verfassung das obligatorische Staatsvertragsreferendum vor. Das Parlament kann einen Vertrag aber auch allein aufgrund seiner Wichtigkeit dem obligatorischen Referendum unterstellen, wie es dies beim EWR oder beim Freihandelsabkommen getan hat.

Doch im Juli kam das Bundesamt für Justiz zur Ansicht, dass die freiwillige Unterstellung eines Staatsvertrags unter das obligatorische Referendum, das sogenannte Referendum sui generis, keine Verfassungsgrundlage habe und man sich deshalb die Frage stellen müsse, ob es überhaupt zulässig sei. Die Einschätzung der Juristen löste sogar beim Bundesrat Konsternation aus. Offensichtlich überrascht vom Inhalt des Gutachtens, liess die Landesregierung ausrichten, man lasse sich den Entscheid offen.

Nun soll die Initiative dafür sorgen, dass das geplante Abkommen mit der EU nur schon aus politischen Gründen Volk und Ständen vorgelegt werden muss. Denn dies schmälert die Erfolgschancen des Vertragswerks enorm. Sogar die grössten Optimisten gehen davon aus, dass eine Mehrheit der Kantone keine stärkere Anbindung der Schweiz an die EU will. Dieser Meinung ist offenbar auch die europafreundliche Konferenz der Kantonsregierungen (KdK), die sich wohl deshalb hartnäckig gegen die Unterstellung unter das Ständemehr ausspricht.

Und noch einen zweiten Widerhaken haben die Initianten angebracht: Das geplante Volksbegehren enthält auch eine Rückwirkungsklausel. Würde das Vertragswerk mit der EU trotz allem politischen Druck nur dem fakultativen Referendum unterstellt und resultierte an der Urne ein Ja, müsste die Abstimmung wiederholt werden. Dies natürlich nur, wenn die Initiative der Organisation Kompass Europa selbst eine Volksabstimmung überstanden hätte.

Der Zeitpunkt für die Lancierung des Volksbegehrens ist klug gewählt. Wahrscheinlich wird sich der Bundesrat bereits Anfang November mit dem Wortlaut des geplanten institutionellen Abkommens befassen müssen. Der Schweizer Unterhändler Patric Franzen boxt derzeit die letzten Runden mit seinen Sparringpartnern aus Brüssel, und lange schlug er sich gut. Das neue Vertragswerk ist besser als das alte. Doch nun hat ihm die am Donnerstag bekanntgewordene Absage der EU-Kommission an eine Schutzklausel einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Wer steht eigentlich hinter einem Abkommen mit der EU?

Vor drei Jahren brach der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU ab, weil die Chancen für eine Mehrheit gegen null tendierten. Seither hat sich wenig verändert. Die grossen Wirtschaftsverbände, die Pharmaindustrie und die Grünliberalen sind nach wie vor überzeugt davon, dass die Schweiz auf einen bevorzugten Zugang zum europäischen Binnenmarkt angewiesen ist. Und der Preis dafür sei nun einmal das von der EU geforderte institutionelle Abkommen. Ob das allerdings die Mehrheit der Bevölkerung ebenso sieht, ist offen. Die Materie ist kompliziert, und viele sind sich noch unschlüssig. Bernhard Russi ist längst nicht der Einzige, der nicht weiss, dass die EU und die Schweiz seit Monaten wieder verhandeln.

Die Unsicherheit ist verständlich. Die meisten politischen Parteien äussern sich negativ über das Abkommen oder meiden das Thema. Die SVP ist seit je dagegen, und in der traditionell europafreundlichen SP haben die Gewerkschaften übernommen. Ihnen geht es längst nicht nur um den Lohnschutz. Muss die Schweiz dynamisch EU-Recht übernehmen, könnte es bald vorbei sein mit der grossen Kontrollmacht, die die Arbeitnehmerorganisationen in der Schweiz geniessen. In der Mitte-Partei halten sich die Befürworter und die Gegner eines Vertrags mit der EU etwa die Waage, und bei der FDP melden sich immer mehr Skeptiker: Unter den Unterstützern der Organisation Kompass Europa finden sich auffällig viele Freisinnige, darunter der Zürcher Stadtrat und Kantonalpräsident Filippo Leutenegger, der Nidwaldner Ständerat Hans Wicki, dessen Bündner Amts- und Parteikollege Martin Schmid oder der Berner Nationalrat Christian Wasserfallen.

Die Gefolgschaft der drei politisch engagierten Unternehmer besteht längst nicht nur aus TV-Promis, Partnern und Geschäftskollegen. Ein Blick auf die Mitgliederliste zeigt neben normalen Bürgern und Gewerbetreibenden das halbe Who’s who der Schweizer Wirtschaft: Swisslife-Verwaltungsratspräsident Rolf Dörig ist dabei, Swisslife-Verwaltungsrat Ueli Dietiker ebenfalls, dazu gesellen sich die Privatbanquiers Eric Sarasin und Raymond Bär, Eric Syz, der Präsident der Syz-Gruppe oder Pierre Mirabaud, der ehemalige Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung.

Von Christoph Blocher lernen heisst Unternehmerkomitees bilden

Die Parallelen zur EWR-Abstimmung von 1992 sind unübersehbar. Die «Handelszeitung» fragt sich bereits, ob Alfred Gantner der neue Christoph Blocher sei. Denn auch Blocher hatte bei seinem Kampf gegen den geplanten Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum namhafte Unterstützer hinter sich. Der unermüdlichste war der ehemalige freisinnige Nationalrat und frühere Gewerbeverbandsdirektor Otto Fischer. Aber auch der Aargauer Unternehmer Otto Suhner und der Zürcher Autoimporteur Walter Frey gründeten je ein Unternehmerkomitee.

Christoph Blocher hat seine Schlacht gewonnen. Am 6. Dezember 1992 lehnte die Schweizer Stimmbevölkerung den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum mit 50,3 Prozent hauchdünn ab; 18 Kantone sagten Nein.

Mit ihrer Initiative hat die Gruppe um Alfred Gantner nun eine Operation EWR 2.0 gestartet, und die Aussichten für einen Erfolg sind auch dank der Unbeweglichkeit der EU-Kommission intakt. Kaum ein Thema beschäftigt die Schweizer Bevölkerung mehr als die Zuwanderung. Ein Abkommen ohne Schutzklausel wird es sehr schwer haben. Dazu kommt die verworrene politische Gemengelage. Denn Kompass Europa ist nicht die einzige Organisation, die europapolitisch aktiv geworden ist. Auch die links-progressive Operation Libero sammelt derzeit Unterschriften für eine Korrekturinitiative – allerdings für eine, die den Bundesrat zu einem Abkommen mit der EU verpflichten will.

Genau das Gegenteil bezweckt die SVP: Mit der Neutralitäts-, der 10-Millionen-sind-genug- und der Grenzschutz-Initiative hat Christoph Blochers Partei gleich drei Volksbegehren lanciert, die alle denselben Zweck haben: die Schweiz von der EU fernzuhalten.

Die Wirtschaft ist gespalten, drei Bundesratsparteien sind das ebenfalls, und vom Bundesrat weiss man nicht, wie einig er sich ist. Der Kampf um die Stellung der Schweiz in Europa hat begonnen – und vorerst sind die EU-Skeptiker im Vorteil.

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