Mittwoch, Januar 15

Die Erfolge um die neue Olympiasiegerin Chiara Leone und Co. nahmen 2012 ihren Anfang. Als der Sportminister Maurer zornig zu einer Brandrede ansetzte.

Wer hätte das gedacht, dass nach der ersten Olympia-Woche in Paris die medaillenträchtigste Sportart für die Schweiz das Schiessen ist? Am Montag gewann Audrey Gogniat Bronze mit dem Luftgewehr, am Freitag krönte sich Chiara Leone in der Königsdisziplin Dreistellungsmatch gar zur Olympiasiegerin.

Wer 2012 an den Sommerspielen in London war, mag eine solche Bilanz fast nicht glauben. Denn damals lebte das Schweizer Schiess-Team in einer anderen Welt. Das Bestresultat war ein 11. Platz. Einige Leistungen taxierte der NZZ-Korrespondent als «peinlich», sein Fazit trug den Titel: «Überwiegend kläglich». Und er meinte: «Jetzt sind Erklärungen gefordert!»

Einer der Ersten, die zur Analyse schritten, war der damalige Bundesrat und Sportminister Ueli Maurer – und er tat dies resolut, noch in London. Ein Journalist, der damals dabei war, zeichnete in diesen Tagen nun auf amüsante Weise nach, wie Maurer seinem Ärger im «House of Switzerland» unverhofft Luft verschaffte.

War Wilhelm Tell eine Frau?

Der Chronist erzählt es so: Maurer habe ihm gesagt, dass er sich Sorgen mache um den Schiessverband. Er habe bei dessen Equipe vorbeigeschaut und keinen guten Eindruck erhalten, die Athleten seien auf die olympische Herausforderung mental nicht gut genug vorbereitet gewesen. Maurer habe sich bei seinem Besuch gefühlt wie an einem Schützenfest – der Bundesrat wird zitiert: «Es fehlten nur noch die Rössli-Stumpen.»

Wer nicht weiss, was ein Rössli-Stumpen ist: Das ist ein Tabakerzeugnis, das gerne von gemütlichen, älteren Herren geraucht wird, wenn sie sich in lüpfiger Runde befinden.

Man könnte einwenden: Die Aussagen von Maurer entstanden im lockeren Austausch, nicht jeder Satz war möglicherweise für die Öffentlichkeit bestimmt. Und dass er dabei ausgerechnet auf jenen Reporter traf, für den der Begriff «Polemik» einst erfunden wurde, wusste der Magistrat vielleicht nicht, das Edelweiss-Hemd seines charmanten Gegenübers vernebelte ihm allenfalls die Sinne.

So frohlockt der Journalist heute über «die wohl pointierteste bundesrätliche Kritik olympischer Leistungen seit den ersten Spielen 1896 in Athen». Und zelebriert die Wortkreation «Stumpen-Gate».

Aber der polarisierende Chronist liegt nicht falsch, wenn er Maurer als «Vater eines neuen Zeitalters im helvetischen Schiesssport» bezeichnet, indem er ihn dafür feiert, dass er damals sein Herz auf der Zunge getragen habe. Denn Maurer hatte mit seiner scheltenden Brandrede tatsächlich einen Prozess angeregt, der Fortschritte beschleunigte. Oder wie es der Polemiker formuliert: «Der bundesrätliche Zorn hat reiche Früchte getragen.»

Dass Maurers Voten Wirkung erzielten, bestätigt Daniel Burger, der heutige Sportchef des Schweizer Schiessverbands. Der SSV hatte sich nach London zu einem radikalen Neuanfang durchgerungen – und krempelte seine Leistungssport-Abteilung völlig um. Und es reifte die Idee, dass es Sinn ergeben könnte, die besten Athletinnen und Athleten des Landes an einem nationalen Stützpunkt zusammenzuziehen, um sie dort unter sehr professionellen Bedingungen gebündelt zu fördern.

Unterdessen gilt dieses sogenannte NLZ in Biel, das 2016 kurz nach Burgers Jobantritt eröffnet wurde, als die Schmiede für die Medaillen der letzten Jahre, so auch für die beiden Olympiasiege von Nina Christen und Chiara Leone.

Erste positive Konsequenzen hatten die Umstrukturierungen bereits 2016 an den Sommerspielen in Rio de Janeiro, als die Pistolen-Spezialistin Heidi Diethelm Gerber – in London noch unter «ferner schiessen» – Olympia-Bronze gewann. Sie wurde aber stark von ihrer Unkonventionalität und ihrer Eigeninitiative getragen und galt nicht als die Vorzeigeathletin für ein breit angelegtes, ausgeklügeltes Fördersystem, wie es sich nun präsentiert.

Mittlerweile funktioniert die neue Philosophie des SSV so gut, dass er im Medaillenspiegel von Paris viel grössere Schiess-Verbände wie etwa den deutschen hinter sich lässt.

Auffällig ist: Bis jetzt spuckt das NLZ vor allem herausragende Frauen aus, weniger Männer. Was Polemiker dazu verleiten könnte, in einer Schlagzeile zu fragen: War Wilhelm Tell vielleicht sogar eine Frau? Aber besser lässt man solche Einlassungen bleiben, denkt man an überhitzt geführte Geschlechterdebatten. Daniel Burger jedenfalls sagt zu diesem Thema: «Wir fördern die Männer in gleichem Mass. Aber unter ihnen sind viel weniger bereit, sich mit Haut und Haar dem Schiessen zu verschreiben.»

Abschied eines Querdenkers

Doch, Achtung! Im SSV stehen heikle Veränderungen an, die das grosse Glück gefährden könnten. So wird das Mastermind Daniel Burger den Verband verlassen – und er ist der Vater des Triumphzugs. Als Schütze schaffte er es nicht ganz an die Weltspitze, aber als Funktionär war er Gold wert. Über das Schiessen kann er länger dozieren, als Thomas Gottschalk eine TV-Show moderiert, und aufgrund seines Dialekts und seiner Mitteilsamkeit trägt Burger den Spitznamen «Radio Fribourg».

Doch bedeutend ist: Burger weiss, wovon er spricht, und hat ein feines Sensorium für gute und schlechte Entwicklungen. Deshalb ist der SSV gut beraten, seine Nachfolge mit Bedacht zu regeln. Burger war ein Manager und umtriebiger Querdenker, kein biederer Bürokrat.

Was aufhorchen lässt: Burger liess vor kurzem im Verbandsmagazin durchblicken, dass er «bei schwierigen Themen» innerhalb der Schweizer Schützenfamilie zu wenig Wertschätzung gespürt habe. Er musste sich für Olympia-Selektionen verteidigen und vermisste Rückendeckung, obwohl sich seine Entscheide als brillant erwiesen. Die Diskussionen mit Kleingeistern und Ewiggestrigen haben ihn ein wenig ermüdet. Trotzdem hält er aufgeflammte Debatten für bereichernd. Sie stünden auch für positive Dynamiken im Verband, sagt er.

Vielleicht wird der SSV in Zukunft nicht ganz auf Burgers Expertise verzichten müssen. Denn der Freiburger erhält einen Chefposten bei einem der weltgrössten Hersteller von Sportwaffen. Mit einem der Gewehre von diesem Fabrikanten wurde Chiara Leone am Freitag Olympiasiegerin. Man könnte bilanzieren: Operation «Rössli-Stumpen» erfüllt!

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