Donnerstag, Dezember 26

Mit seiner Kafka-Oper «Amerika» war Roman Haubenstock-Ramati der Idee eines multimedialen Totaltheaters um Jahrzehnte voraus. Passend zum Kafka-Gedenkjahr zeigt die Zürcher Oper nun, was in dem verkannten Werk steckt.

Franz Kafka ist alles andere als ein Erfolgsgarant auf der Opernbühne. Das erstaunt, denn etliche Motive aus seinem literarischen Werk sind geradezu volkstümlich geworden. Obendrein wirken viele seiner Figuren derart plastisch, dass man sie sich ohne Mühe auf einer Bühne vorstellen kann. Allen voran natürlich den armen Gregor Samsa, der sich eines Morgens nach unruhigen Träumen in ein «ungeheures Ungeziefer» verwandelt sieht; aber auch den schuldlos schuldigen Josef K. aus dem «Process», der in einem aussichtslosen Kampf der Macht der Bürokratie unterliegt. Es gibt Opern zu diesen und zu fast allen anderen Stoffen Kafkas, unter anderem eine geistreiche Adaption des Romans «Das Schloss» von Aribert Reimann und eine Funkoper zum «Landarzt» von Hans Werner Henze. Doch Glück gebracht hat Kafka keinem dieser Werke.

Besonders schlimm hat es die Kafka-Oper «Amerika» des polnisch-israelischen Komponisten Roman Haubenstock-Ramati erwischt. Dessen Bühnenbearbeitung des unvollendeten Romans, der heute unter dem Titel «Der Verschollene» bekannt ist, erregte bei ihrer Uraufführung 1966 an der Deutschen Oper Berlin einen derartigen Skandal, dass das Stück nach der zweiten Aufführung abgesetzt wurde. Seither haben sich nur noch zwei kleinere Häuser, Graz und Bielefeld, an Neuproduktionen gewagt; mehrere andere scheiterten im Planungsstadium. Ein verfluchtes Werk? Sicher nicht, aber ein verflucht anspruchsvolles. Es kommt daher einer Ehrenrettung gleich, dass das Opernhaus Zürich das Stück nun fast wie eine ganz normale Premiere präsentiert.

Autobiografische Beweggründe

Aber eben nur fast. Denn auch in Zürich brauchte man zwei Anläufe. Die eigentlich schon in der Saison 2020/21 vorgesehene Produktion fiel der Corona-Pandemie zum Opfer. Durch die Verschiebung ist die Neuinszenierung nun jedoch einer der herausragenden Beiträge des internationalen Musiktheaters zum Kafka-Gedenkjahr 2024 geworden. Zudem fand die Premiere just am 30. Todestag von Haubenstock-Ramati statt. Der hatte, als er «Amerika» zwischen 1962 und 1964 nach einem eigenen Textkonzept komponierte, gewichtige autobiografische Beweggründe für seine Stoffwahl.

Als nahe Krakau geborener Jude floh Haubenstock 1939 vor den Deutschen in die Sowjetunion, wurde dort aber wegen seiner Mehrsprachigkeit 1941 unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet und über Odessa nach Tomsk deportiert. Auf abenteuerlichen Umwegen gelangte er schliesslich mit dem 2. Polnischen Korps, der Armee der polnischen Exilregierung, nach Palästina. Angesichts dieses Lebenslaufs verwundert es nicht, dass Haubenstock-Ramati bei seiner Romanadaption die Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber jenen Mächten betont, die unser Lebensschicksal immer aufs Neue in andere, oft unverhoffte Bahnen lenken können.

Durch die Auswahl von insgesamt 25 Schlüsselszenen folgt Haubenstock-Ramati einer bis heute verbreiteten Lesart, die Kafkas «Verschollenen» als radikales Beispiel eines negativen Entwicklungsromans deutet. Dessen unbedarfte, seltsam passive Hauptfigur Karl Rossmann ist tatsächlich zu keinem Zeitpunkt Herr der Lage, geschweige denn seines Daseins. Schon von der eigenen Familie wird er wegen eines Fehltritts mit einem Dienstmädchen kurzerhand nach Amerika verfrachtet, und auch dort bestimmen ständig andere über ihn. Ständig wird er von einer Situation willenlos in die nächste gestossen, und wenn er doch einmal eigene Entscheidungen treffen will, kommt ihn das umgehend teuer zu stehen. Kein Wunder, dass seine Lebenskurve alsbald steil nach unten weist.

Der weitgehend chronologische, aber episodenhaft offen wirkende Gang der Romanhandlung bleibt in der Szenenfolge der Oper klar erkennbar, und das, obwohl Haubenstock-Ramati bereits über avanciertere Techniken der Dramaturgie wie Simultanszenen und ein Aufbrechen der linearen Erzählweise nachdachte. Realisiert hat solche Ideen mit letzter Konsequenz und exakt zur selben Zeit allerdings ein anderer, nämlich Bernd Alois Zimmermann mit seiner überragenden Lenz-Oper «Die Soldaten». «Amerika» steht heute in deren Schatten.

Das ist deshalb ungerecht, weil Haubenstock-Ramati unabhängig von Zimmermann auf einen im Kern sehr ähnlichen Gedanken kam: nämlich, die Oper durch die Einbeziehung von Pantomimen, Licht- und Filmprojektionen, Zuspielbändern und im Zuschauerraum verteilten Lautsprechern zu einem allumfassenden Multimedia-Kunstwerk zu machen. Technisch überforderte Haubenstock-Ramati damit die Möglichkeiten der 1960er Jahre bei weitem – in Berlin verfügte man seinerzeit beispielsweise nur über vier Lautsprecher; in Zürich kommt der zugespielte Sound jetzt aus bis zu achtzig Schallquellen. Die Tonabteilung des Opernhauses um Oleg Surgutschow hat für diese Surround-Effekte das Equipment und Erfahrungen mit den aus der Not geborenen Orchester-Zuspielungen während der Pandemiezeit beeindruckend zu nutzen gewusst.

Auch die Regie von Sebastian Baumgarten knüpft bei dem ehedem utopischen Ziel einer bruchlosen Verschmelzung eigenständiger Kunst- und Ausdrucksformen an. Dahinter steht die richtige Erkenntnis, dass sich Wagners Postulat eines immersiven «Gesamtkunstwerks» heute in einem Ausmass verwirklichen lässt, von dem Wagner, aber auch noch Haubenstock-Ramati nur träumen konnte. Anders als beim neuen «Parsifal» in Bayreuth verzichtet man in Zürich dafür zwar auf die – ohnehin problematischen – 3-D-Brillen; stattdessen macht Baumgarten aber die Bühne selbst zur Projektionsfläche eines audiovisuellen Totaltheaters.

Hier findet dementsprechend nicht nur die vergleichsweise schlichte Handlungsfolge um den von allen herumgeschubsten Karl Rossmann Platz, sondern auch die viel interessantere Visualisierung seiner oft ins Surreale und Träumerische abgleitenden Gedankengänge und Empfindungen. Besonders anschaulich wird das in einer Schlüsselszene mit dem Titel «Vermutungen über ein dunkles Haus».

Karl hat sich im ausweglosen Labyrinth der Räume, Gänge und Zimmerfluchten im Anwesen des zwielichtigen Herrn Pollunder (Robert Pomakov) verlaufen – um uns kreisen die suggestiven Klänge der beiden zugespielten Orchester und der live von Gabriel Feltz dirigierten Philharmonia. Dazu zeigen Baumgarten und seine Ausstatterin Christina Schmitt immer nur für Augenblicke Albtraum-Szenarien mit der Anmutung expressionistischer Stummfilm-Kulissen, perfekt komponiert aus realen Bühnenaufbauten und raffinierten Licht- und Videoprojektionen (Elfried Roller und Robi Voigt). Schnell wird klar: Das ist kein Haus, sondern ein Blick in den Kopf des jungen Mannes, der sich in diesem seinem inneren «Amerika» für immer verlaufen wird.

Womöglich ist sogar die ganze dystopische Auswanderer-Phantasie bloss ein Sinnbild: für Karls Ängste vor dem Fremden, vor dem Unwägbaren einer «Neuen Welt» – also wohl dem Leben selbst – und nicht zuletzt vor den Frauen. Das unterstreichen die beiden wichtigsten, zur Karikatur verzerrten Frauenfiguren: die gewalttätige Klara (Mojca Erdmann), die Karl erst alle Knochen bricht und ihn dann vergewaltigt, und die abgehalfterte Show-Sängerin Brunelda (Allison Cook), der kein Mann irgendetwas recht machen kann.

Karl selbst bleibt dagegen ein leeres Gefäss. Paul Curievici spielt ihn konsequent als grosses, tapsiges Kind, das mit weit aufgerissenen Augen durchs Leben stolpert. Dessen Passivität kann gleichzeitig Mitleid erregen und einen schier in den Wahnsinn treiben, wenn ihn wieder einmal sein falscher Onkel Jacob moralisch wegen des Dienstmädchens blossstellt oder wenn ihn der Oberportier im Hotel Occidental (Ruben Drole in einer virtuosen Mehrfachrolle) wegen einer Nichtigkeit auf die Strasse setzt.

Mensch, Junge, so möchte man ihm mehr als einmal zurufen, nimm doch endlich das Heft des Handelns in die Hand, sonst wird das nichts mit dem «Pursuit of Happyness» – ob in Amerika oder anderswo. Doch die glorreichen Zeiten, in denen Opernhelden noch selbstbewusst Drachen töteten und schöne Fräuleins aus den Klauen von Bösewichten retteten, sind vorbei. Dieser «Held» hier ist moderner: Er ist sein eigenes Gefängnis. Willkommen bei Kafka.

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