Montag, September 30

Zum Auftakt seiner letzten Spielzeit in Zürich inszeniert Andreas Homoki «Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal als Spiel unterschiedlicher Beziehungskonzepte. Die Musik klingt nicht immer so doppelbödig.

Die Suche nach der einen grossen Liebe treibt viele Menschen um. Sie zu finden und dann für immer festzuhalten, ist ein Lebenstraum, nicht nur für hormongestresste Teenager. Dabei gehe es doch letzten Endes bloss darum, so ätzte einmal der lebenslang unverheiratete Philosoph Arthur Schopenhauer, dass jeder Topf seinen Deckel finde. Das mit dem Deckel handhabt man inzwischen allerdings lockerer: Vielleicht muss es doch nicht immer bloss ein und derselbe sein? Oder vielleicht sind es bei Gelegenheit auch einmal zwei oder mehr Deckelchen zur gleichen Zeit? Das 21. Jahrhundert hat sich allerlei Theorien ausgedacht, um promiskuitive Lebensformen jenseits der monogamen Paarbeziehung zu katalogisieren – der schillerndste Begriff, der in dem Zusammenhang durch Internetforen und Publikationen geistert, ist der der Polyamorie.

Doch dass jemand mehreren Partnern zugleich treu sein und dies auch offen ausleben kann, ist beileibe kein Rollenmuster unserer Epoche. Schon vor über hundert Jahren war der Gegensatz «grosse Liebe» contra «erotische Libertinage» Thema einer Oper. Freilich ahnt man die Delikatesse nicht, wenn man bloss deren Titel betrachtet: «Ariadne auf Naxos» – das klingt doch eher nach einem mythologischen Sujet, wie es vor allem die Barockoper pflegte. Doch schon diese Irreführung ist Teil des geistreichen Spiels, das Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss in ihrer zweiten Zusammenarbeit nach dem «Rosenkavalier» trieben. Andreas Homoki, der Intendant des Opernhauses, hat das Meisterwerk von 1916 nun zum Auftakt seiner letzten Spielzeit in Zürich inszeniert.

Der reichste Mann von Zürich

Viele Interpretationen kaprizieren sich auf den reizvollen Blick hinter die Kulissen der Opernwelt, den vor allem das «Vorspiel» zur eigentlichen «Ariadne»-Oper gewährt. Dies ist, zumal für Kenner des Gewerbes, fraglos der lustigere Teil: wenn sich etwa der eitle Herr Tenor wieder einmal weigert, eine unpassende Perücke aufzusetzen; wenn die ebenso selbstverliebte Primadonna bei jedem kleinsten Ärger sofort zum Chef des Hauses rennen will; oder wenn der nach Höherem strebende Komponist drastisch vor Augen geführt bekommt, dass auch er in diesem System bloss ein Noten-Dienstleister ist.

Homoki lässt dies alles genüsslich und temporeich ausspielen, auch mit zusätzlichen Gags wie einem vernarrten jungen Fan von der Bühnenfeuerwehr, der mit seinem überdimensionierten Blumen-Strauss (!) kläglich an der Garderobentür seiner Angebeteten scheitert. Im Opernhaudegen Kurt Rydl hat Homoki obendrein einen köstlich arroganten Sprecher für die Rolle des Haushofmeisters, der das «Personal» hier in der schwarzen Kluft eines Bühnenmeisters über die anfangs fast leere Bühne scheucht.

Erst allmählich baut sich dort das Szenenbild des nachfolgenden Opernteils zusammen, wir schauen also wirklich hinter – oder vielmehr: direkt auf die Kulissen. Durch diese Selbstbezüglichkeit wird auch klar, wer der Veranstalter des munteren Durcheinanders ist: Der geheimnisvolle «reichste Mann von Wien», der das «Ariadne»-Spektakel angeblich «bestellt und bezahlt» hat, aber nie in Erscheinung tritt, ist der Hausherr und Intendant selbst.

Allerdings tritt Homoki dann doch in Erscheinung, gezwungenermassen, denn vor dem Opernteil gilt es einen indisponierten Sänger anzusagen. Homoki tut das mit vollendeter Ironie, wenn er mit der glatt gelogenen Versicherung vor den Vorhang tritt: «Keine Angst, ich spiele nicht mit.» Das passt köstlich zu diesem Theater mit doppeltem und dreifachem Boden, bei dem schon durch Hofmannsthals raffinierten Text Schein und Sein, Illusion und echtes Gefühl bis zur Ununterscheidbarkeit ineinanderfliessen.

Spielarten der Liebe

Homoki erkennt indes auch die Gefahr, die bei jeder Produktion der «Ariadne auf Naxos» droht: dass das Ganze zu einer artifiziellen Insiderveranstaltung für Opernaficionados wird. Und so arbeitet er als zweites und eigentliches Hauptthema seiner Regie das Motiv der unterschiedlichen Vorstellungen von Liebe und Treue heraus.

Zur zentralen Figur wird dabei die Zerbinetta: Die Komödiantin, die mit ihrer Commedia-dell’Arte-Truppe immer wieder in die Opernhandlung einbricht und sie mit derben Spässen aufpeppt, verkörpert die reine Lebensbejahung – und damit verbunden die Idee, dass ein Mensch seine Freiheit und Erfüllung eben auch in wechselnden Beziehungen zu mehreren Partnern finden kann. Zur Entstehungszeit Anfang des 20. Jahrhunderts muss das durchaus frivol auf das bürgerliche Publikum gewirkt haben; heute beginnt man zu akzeptieren, dass dahinter womöglich einfach ein anderes Lebenskonzept steht.

Die Chinesin Ziyi Dai, die überragende Sängerin des Abends, hält die Rolle jedenfalls subtil in der Balance: Ihre Zerbinetta, technisch brillant selbst noch in den atemraubendsten Koloraturen, kann dem Affen lustvoll Zucker geben; aber die vermeintliche Ulknudel reflektiert ihren Lebensstil auch und fragt sich in weniger lustigen Momenten, ob sie mit ihrer Promiskuität nicht selbst eine Form von Einsamkeit überspielt. Schliesslich fühlt sie sich mitten im Leben manchmal ähnlich auf einer «wüsten Insel» gefangen wie Ariadne auf ihrem elenden Naxos.

Von dort will die titelgebende Primadonna – von Daniela Köhler sicher, aber etwas farbarm und ohne den Strauss-typischen Sopranschmelz gesungen – schnellstmöglich fort, am liebsten direkt ins Totenreich. Denn seit sie von ihrem Bräutigam versetzt worden ist, gibt es für sie keine Freude mehr, schon gar nicht in der Liebe. Doch mit der trotzigen Treue zu dem Einen und Einzigen, die nur im Tod ein Ende findet, wird es nichts. Das Schicksal spült ihr nämlich den Halbgott Bacchus (John Matthew Myers) ans Gestade, und gemeinsam lernen die beiden, die traumatischen Beziehungen aus ihren früheren Leben – er zu Circe, sie zu Theseus – hinter sich zu lassen.

Dies ist eine Pointe der Oper, die oft im Jubel der ekstatischen Schlussszene untergeht: Während Ariadne ihre Fixierung auf die eine grosse Liebe überwindet und mit dem zum «neuen Gott» gewordenen Bacchus das Schiff besteigt, bleibt Zerbinetta womöglich für immer gefangen auf der einsamen Insel in ihrem Inneren.

Homoki verdeutlicht diese raffinierte Umkehrung der Personenkonstellation, indem er den Komponisten, eigentlich die Hauptfigur des Vorspiels, auch in der Oper auftreten lässt. Mit unauffälliger Präsenz geistert Lauren Fagan in dieser androgynen Hosenrolle durchs Geschehen, lauscht sozusagen der von ihm (oder ihr) selbst verfassten Musik und versucht immer wieder einzuschreiten, sobald Zerbinettas Komödiantentruppe allzu toll in dem eigenen Werk herumspukt.

Noch ein Gott

Aber es hilft alles nichts: Es hat ja schon im Vorspiel gefunkt zwischen dem weltfremden Künstler und der Singdrossel mit dem rührenden Hang zur Melancholie. Sie inspiriert ihn, sich dem Leben zu öffnen; aber ist er für sie auch jener «neue Gott», auf den sie insgeheim wartet? Und wartet Zerbinetta überhaupt? Kommen die mehr oder weniger göttlichen Kerle und damit die nächste Affäre nicht sowieso? Die Frage bleibt in der Schwebe – ein zauberhafter Schluss!

Leider erreicht Markus Poschner am Pult der Philharmonia nicht immer ein ähnliches Raffinement im Musikalischen. Obwohl Strauss das «Ariadne»-Orchester auf weniger als vierzig Spieler reduziert hat, dröhnt es stellenweise erheblich. Das wäre im intimen Rahmen des Zürcher Opernhauses anders denkbar und muss sich vielleicht erst entwickeln. Auch im durchweg überzeugend besetzten Ensemble der Nebenrollen herrscht am Premierenabend eine gewisse Überspannung. Entscheidend ist aber etwas anderes: Musik und Bühne greifen hier in idealer Weise ineinander, es gibt viel zum Schmunzeln, zum Schwärmen und zum Nachdenken. So muss ein Spielzeitauftakt sein.

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