Samstag, Dezember 21

Barrie Kosky hat die Operette weltweit in die Spielpläne zurückgebracht: erst in Berlin, jetzt in Zürich. Seine Neuinszenierung der «Lustigen Witwe» von Franz Lehár ist ein prächtiges Spektakel – aber mit doppeltem Boden.

Die drei älteren Damen, zwei Reihen weiter, amüsieren sich königlich. Wann immer einer der Evergreens des Stückes kommt – und die weltbekannten Nummern, sie kommen am laufenden Band –, singen oder summen die drei leise mit. Besonders prachtvoll ausstaffierte Szenen – auch davon gibt es viele an diesem Abend – entlocken ihnen mehr oder weniger hörbare Rufe der Begeisterung. Und irgendwie weiss man, auch ohne sich umzudrehen, dass mindestens eine aus dem munteren Trio beim bittersüssen Herzschmerzfinale ein Tränchen verdrückt haben wird.

Für die drei Besucherinnen war die jüngste Premiere der Oper Zürich offenkundig ein voller Erfolg. Und es gab ja auch eine Menge zu sehen bei Barrie Koskys Neuinszenierung der «Lustigen Witwe» von Franz Lehár. Allein die Kostüme an diesem Abend, von Gianluca Falaschi und den zuständigen Abteilungen vermutlich in zahlreichen Sonderschichten angefertigt, sind ein Fest, so üppig, dass die schmale Bühne des Opernhauses schier überzuquellen scheint. Auch das Zusammenspiel mit dem von Kim Duddy auf Broadway-Präzision getrimmten Tanzensemble funktioniert prächtig: Wenn die flotten Mädels (plus ein paar Jungs, en travestie) die Beine schmeissen und die Röckchen fliegen, herrscht eine Stimmung wie im Pariser Variété. Was will man mehr?

Kein seichtes «Öperchen»

Man will eigentlich nicht viel mehr. Denn Operette ist zuallererst eine unbeschwerte Unterhaltungskunst. Anders als die oft tiefschürfende Oper, in der die Gefühle zu jeder Zeit echt wirken müssen, nimmt sich die mindestens ebenso gefühlsselige Operette selber nicht ganz ernst. Das hat ihr nach dem Ende ihrer Glanzzeit den Ruf der Oberflächlichkeit eingetragen. Doch der Vorwurf ist etwa so erhellend wie die Feststellung, dass Groschenromane keine Weltliteratur sind. Er war obendrein ein Ablenkungsmanöver, nämlich von der Tatsache, dass es nach 1945 lange kaum mehr Regisseure gab, die dieser Kunstform mit ihren ganz eigenen Theatergesetzen gerecht werden konnten. An diesem Punkt kommt Barrie Kosky ins Spiel.

Der gebürtige Australier hat während seiner Ära als Chefregisseur und Intendant der Komischen Oper Berlin mehr für diese Spielart des Musiktheaters getan als jeder andere; ja er hat die Operette regelrecht zurück in die Spielpläne katapultiert. Dank ihm weiss auch der Letzte, dass sie eben kein seichtes «Öperchen» ist, sondern ein eigenes Genre, das jede Bühne zum Funkeln und Vibrieren bringen kann – man muss sie halt nur inszenieren können.

Dass Kosky es kann, hat er seit 2013 vor allem an der Sonderform der Berliner Operette demonstriert, die vor 1933 bereits Themen wie Emanzipation, Diversität und fluide Genderidentitäten verhandelt hat. Selbstredend ist diese Tradition dem Kultur- und Rassenwahn der Nazis zum Opfer gefallen, und Koskys Wiederbelebungsversuche sind daher auch ein kulturhistorischer Meilenstein.

Inzwischen überträgt Kosky seine Erfolgsrezepte ebenso virtuos auf die etablierten Dauerbrenner der Gattung, gerade erst auf «Die Fledermaus» in München, jetzt auf «Die lustige Witwe» in Zürich. In den Variété-Szenen der 1905 uraufgeführten «Witwe» verrutscht ihm denn auch ein wenig der Stil, nämlich in die späten 1920er Jahre. Plötzlich sind auch hier alle ein bisschen queer, aber Buntheit hat schliesslich noch keinem geschadet.

Zudem profitiert auch Lehárs Werk von der Freiheit und Leichtigkeit, die Kosky im Umgang mit der Gattung in Berlin erlangt hat. Er treibt dem Stück alle Biederkeit und die oft so unerträgliche Betulichkeit aus. Dafür wurde merklich intensiv an den gesprochenen Dialogen gearbeitet, sie haben, ungeachtet einiger zäher Stellen gegen Ende, viel Tempo, Witz (Kalauer inklusive) und vor allem jene genretypische Selbstironie, mit der sich die Figuren immer wieder selbst auf die Schippe nehmen.

Still vereint im Walzerschritt

Musikalisch ist die Aufführung zunächst weniger klar fokussiert. Patrick Hahn am Pult der Philharmonia Zürich mag sich anfangs nicht recht festlegen, ob er eher den üppigen Sound des späten 19. Jahrhunderts bedienen oder doch mehr den Aufbruch in die Moderne betonen will, der sich in Lehárs Harmonik und der raffinierten Orchestrierung abzeichnet. Zum Glück entscheidet er sich mehr und mehr für das Letztere: Wenn er fast kammermusikalische Farben herausarbeitet und in präziser Abstimmung mit der Bühne Atmosphäre schafft, erreicht die Musik eine Klangsinnlichkeit wie bei Richard Strauss, dessen «Salome» drei Wochen vor der «Witwe» uraufgeführt wurde.

Mithin passt es, dass mit Marlis Petersen eine gestandene Strauss-Sängerin die Titelrolle übernimmt. Kosky hat mit ihr als Marschallin während der Corona-Pandemie einen bewegenden «Rosenkavalier» in München erarbeitet – und einiges klingt davon nach in der tief melancholischen, gar nicht so «lustigen» Zeichnung der Witwe Hanna Glawari, die sich all die albernen Kerle vom Hals halten muss, die sie nur ihres Millionenerbes wegen heiraten wollen. Nur eben der eine, Graf Danilo, der will die Millionen nicht, mag ihr aber seine echte Zuneigung gerade deshalb nicht zeigen. Oder allenfalls stumm: Den Ohrwurm-Hit «Lippen schweigen» summen die beiden Königskinder tatsächlich bloss – still vereint im Walzerschritt. Der Höhepunkt des Abends.

Wie Petersen kommt Michael Volle eigentlich aus einem anderen Fach: Sein Danilo klingt immer ein wenig nach Wotan, der sich nun statt mit Walküren lieber mit Grisetten im «Maxim» vergnügt. Allerdings ist die Stimme zu schwer, zumal im Vergleich mit der Buffo-Brillanz des Komödiantenpaares Valencienne (Katharina Konradi) und Rosillon (Andrew Owens). Kosky, der Regieprofi, fängt die Unwucht jedoch mit einer Rahmenhandlung ab: Dieser Danilo ist ohnehin ein Fremder, womöglich bloss ein Wunschbild Hannas, ihr verflossenes Glück. Und das ganze Spektakel: nichts als ein flüchtiger Traum.

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