Sonntag, April 20

Zürichs Intendant Andreas Homoki hat Bizets globalen Dauerbrenner 2023 am Ort der Uraufführung in Paris inszeniert – jetzt kommt die ambitionierte Produktion ans Opernhaus, hinterlässt aber einen durchzogenen Eindruck.

Angeblich wird sie an bis zu vier Orten in der Welt gleichzeitig aufgeführt, Tag für Tag: «Carmen» von Georges Bizet ist sozusagen die «Mona Lisa» unter den Opern – jeder kennt den Titel, fast alle haben eine ungefähre Vorstellung davon, wer diese populäre Frauengestalt ist, und selbst Menschen, die noch nie ein Opernhaus betreten haben, dürften Melodien aus dem Werk kennen: Namentlich Carmens «Habanera» und die Stierkampf-Musik Escamillos haben sich ins kollektive Ohrwurm- und Werbejingle-Gedächtnis eingebrannt.

Die Kehrseite der globalen Bekanntheit ist, dass eine Neuinszenierung des Klassikers mindestens so herausfordernd ist wie eine sinnstiftende Kunstausstellung rund um Leonardos Meisterwerk. Ein Opernhaus sollte also gute Gründe haben, wenn es «Carmen» auf den Spielplan setzt. In Zürich verweist man auf die zeitliche Nähe der Opernhaus-Premiere zu den zyklischen Aufführungen von Wagners «Ring des Nibelungen» im Mai. Tatsächlich ergibt sich dadurch die reizvolle Gelegenheit, den bedeutendsten Künstlerstreit des 19. Jahrhunderts nachzuvollziehen: den ästhetischen Dissens zwischen Wagner und Friedrich Nietzsche, der dem Welterklärungspathos seines einstigen Idols die sonnendurchglühte Leichtigkeit Bizets entgegenhielt. Aber ist das Anlass genug für eine Neuproduktion?

Am Ursprung eines Welterfolgs

Die Oper Zürich zieht noch einen Trumpf aus dem Ärmel. Die Inszenierung des Intendanten Andreas Homoki ist in einer Koproduktion mit der Pariser Opéra-Comique entstanden – in der dortigen Salle Favart wurde «Carmen» 1875 uraufgeführt. Auf diesen Ursprungsort des (späteren) Welterfolgs nimmt die Regie, die dort bereits vor einem Jahr zu sehen war, reichlich Bezug. Das Zürcher Bühnenbild von Paul Zoller ist sogar eine naturalistische Nachbildung des Bühnenraums der Opéra-Comique. In Paris spielte man der Einfachheit halber direkt vor den kargen Brandschutzwänden des historischen Theaters.

Wenn Regisseure zum Mittel der leeren Bühne greifen, geht es in der Regel darum, das In-Szene-Setzen selbst auszustellen und zu hinterfragen. So auch hier. Die Regie thematisiert unsere Schaulust und unsere hochgespannten, jedoch naturgemäss völlig unterschiedlichen Erwartungen, wie denn eine «Carmen» heutzutage auszusehen habe. Dabei erlaubt sich Homoki sogar einen Gag, indem er den – wie gewohnt vorzüglichen – Chor seine Eröffnungsnummer «Sur la place chacun passe» direkt ins Publikum singen lässt: «Seltsames Volk kann man da sehen».

Einer aus dem «seltsamen Volk» verirrt sich kurz danach auf die Bühne, im Casual Look, mit Markenturnschuhen. Auf der noch leeren Szenerie findet er wie zufällig einen Klavierauszug, liest sich fest und wird umgehend von der dreisten Ortsjugend (köstlich: Kinderchor und SoprAlti des Opernhauses) abgezogen, die ihn zuerst der Designer-Treter, dann der Noten beraubt. Es ist natürlich Don José, der Tenor, der nicht so recht weiss, wie ihm geschieht. Saimir Pirgu spielt dies grossartig: Staunend stolpert er in die Handlung, verwandelt sich immer mehr in den naiven Brigadier José, einen Grünschnabel, gerade erst den Fängen seiner Über-Mutter entkommen, der sich in Gestalt von Carmen unversehens den Reizen, aber auch allen Finessen des anderen Geschlechts ausgesetzt sieht.

Er ist ihr nicht gewachsen, zu keinem Zeitpunkt. Homoki und Pirgu arbeiten dies mustergültig heraus: Neben Carmens Freiheitsdrang und ihrem – für die Epoche um 1875 radikal fortschrittlichen – Pochen auf sexuelle Selbstbestimmung wirkt sein Ringen um ein traditionell-autoritäres Männlichkeitsbild abwechselnd gockelhaft oder aus der Zeit gefallen.

Allerdings bleibt es nicht so lustig, denn die Regie zeigt auch die andere Seite: den Typus Mann, der auf die Blossstellung durch die sich verweigernde Frau mit Gewalt reagiert – anfangs mit körperlichen Handgreiflichkeiten, schliesslich, in der berühmten Finalszene vor der Stierkampfarena, mit einem handfesten Femizid.

Eine Projektionsfigur

Diese fatale Entwicklung kann man selten so packend wie verstörend miterleben. Auch sängerisch überragt der rollenerfahrene Pirgu das übrige, sehr solide besetzte Ensemble. Das wird zum Problem für Marina Viotti, die in der eigentlichen Titelpartie debütiert. Sie versucht sich an einem Mittelweg, der alle Rollenklischees umgehen will. So ist diese Carmen weder Vamp noch Femme fatale, auch nicht die alles beherrschende Power-Frau und erst recht keine glutäugige Zigeunerin – alle Verweise auf dieses Libretto-Motiv sind in der Regie vorsichtshalber getilgt. Was aber ist sie dann? Viotti zeichnet Carmen als selbstbewusste, durchaus ambivalente Gestalt – eben eine Projektionsfigur, in die jeder etwas anderes hineinlesen kann. Damit dieses Konzept trägt, müsste Viotti allerdings die Komfortzone ihres untadeligen Gesangs verlassen und etwas mehr riskieren. Das stimmliche Potenzial hat sie.

Auch Natalia Tanasii versucht mehr aus der Micaëla zu machen als den mütterlichen Sopran-Engel, der tragisch an der Rettung Josés scheitert. Eine kraftvolle Gegenfigur zu Carmen wird sie trotzdem nicht. Noch weniger ist der Regie zum Torero Escamillo eingefallen. Er ist hier nicht der übliche Sex-Protz, der seinen Stieren Konkurrenz macht, sondern einfach ein Nebenbuhler Josés. Leider bleibt Łukasz Goliński stimmlich ebenso blass.

Das kann man vom Dirigat des Generalmusikdirektors Gianandrea Noseda nicht sagen. Aber seine stellenweise sehr kompakte Lesart irrlichtert stilistisch zwischen italienischem Verismo und Grand Opéra; nur die revueartige Leichtigkeit, die Nietzsche so an der «Carmen» schätzte und die wohl auch die Regie mit ihren pausenlosen Szenenwechseln anstrebt, hört man nicht. Das Publikum quittiert die Premiere mit freundlichem, aber kurzem Applaus.

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