Donnerstag, Mai 15

Die bunten Live-Acts beim ersten Halbfinal in Basel und das klassische Musiktheater haben überraschend viel gemeinsam. Sogar die beiden ungleichen Moderatorinnen könnten aus einer Oper stammen.

Ich habe mich verirrt. Das ist nicht deine Welt, funkt das professionelle Über-Ich, als ich am Dienstagabend die Übertragung des ersten Halbfinals beim Eurovision Song Contest (ESC) einschalte. Seit bald dreissig Jahren schreibe ich über Opernaufführungen, die Begeisterung für Tamino, Carmen, Traviata und ihre Leidensgenossen währt noch länger. Genauso lange darf ich mir allerdings anhören, das ganze Theater sei doch in die Jahre gekommen, ein ziemlich alter Hut. Rein rechnerisch stimmt das sogar: 400 Jahre alt ist dieser Hut. Warum also nicht einmal schauen, was die Konkurrenz auf dem anderen Kanal an Neuem zu bieten hat. Man vernimmt ja Phantastisches von den Bühnen-Acts, ein prächtiger Zirkus der Eitelkeiten soll das sein, ganz wie in der Oper, und gesungen wird auch.

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Doch das Erste, was der Klassik-Kritiker an diesem Abend zu hören bekommt, fällt in die Kategorie «alter Hut». Willkommen zu Hause, signalisiert die Musik – die Fanfarenklänge, die jede Übertragung von ESC-Veranstaltungen schwungvoll eröffnen, stammen nämlich von Marc-Antoine Charpentier, einem Meister der Barockmusik aus der Epoche des Sonnenkönigs. Sie bilden den festlichen Auftakt zu dessen «Te Deum» von 1692. Was Gott mit diesem sehr weltlichen Spiel zu tun hat? Wahrscheinlich wusste es die Europäische Rundfunkunion, die den ESC veranstaltet, seinerzeit auch nicht genau, als sie Charpentiers Ohrwurm zur Eurovision-Hymne erkor. Soli Deo gloria. Sozusagen.

Die Schöne und das Biest

Jetzt aber wird es sicher bunt und fetzig. Doch schon wieder komme ich aus dem Staunen kaum heraus: Die szenische Eröffnung des Abends in der ausverkauften St.-Jakobs-Halle Basel zeigt nichts Geringeres als die Entstehung der Welt, und zwar aus Schweizer Perspektive. Berge, Urgewalten, Alphornklänge, dann postmodern verpackte Folklore. Ein angemessen bedeutungsvoller, dennoch augenzwinkernder Hinweis darauf, welches Land diesmal den ESC ausrichtet. Doch die Musik – sie klingt merkwürdig vertraut: lange, liegende Töne im tiefsten Bass, dann aufsteigende Quinten, Quarten und Oktaven, das gab es schon einmal.

Mit solcher Urzeit-Musik eröffnet Richard Wagner den klingenden Kosmos seines «Ring»-Zyklus, es ist der Beginn des «Rheingolds». Schon der Mythenschöpfer der romantischen Oper hat sie sich höchstwahrscheinlich auf Bergwanderungen von Schweizer Alphornbläsern abgelauscht. Später wird Richard Strauss für seine berühmte «Zarathustra»-Fanfare ganz ähnliche Mittel wählen. Also alles schon da gewesen?

Ich schaue weiter. Und der Auftritt der beiden Moderatorinnen dieses Semifinals weckt Hoffnung. Sandra Studer und Hazel Brugger sind ein herrlich gegensätzliches Paar: strahlend, kontrolliert, professionell die eine; ein bisschen unangepasst und skeptisch, mit charakteristisch heruntergezogenen Mundwinkeln und maliziösem Blick die andere. Offenkundig hat die Regie nicht vor, den Tausenden in der Halle und den Millionen vor den Bildschirmen eine ironiefreie Hochglanz-Show zu präsentieren. Hazel Brugger kommt neben der lächelnden Studer offenbar die Rolle der Systemsprengerin zu, die mit flotten Sottisen etwas Wasser in den allzu süssen Wein kippen soll.

Das könnte spannend werden, denkt der Kritiker, denn solche Konstellationen kennt die Operngeschichte zuhauf, Stichwort: die Schöne und das Biest. Wenn etwa die strahlende Elsa in Wagners «Lohengrin» auf die durchtriebene Ortrud trifft, beginnt auf der Bühne ein Gut-gegen-Böse-Battle, der niemanden kaltlässt. Und wer einmal erleben durfte, wie Anna Netrebko und Elīna Garanča sich beispielsweise in «Anna Bolena» von Donizetti einen wahren Zickenkrieg liefern konnten, der erahnt das Potenzial, das hier schlummert. Leider schlummert es in Basel vorerst weiter. Denn Hazel Brugger hat ihre Rolle noch nicht gefunden.

Ein paar spöttische Einwürfe hier, ein paar Witzchen dort, die aber wegen der Simultanübersetzung im Fernsehen kaum zünden. Dazu eine reichlich verunglückte Improvisation, um die überlange Wartezeit auf das Ergebnis des Zuschauer-Votings zu überbrücken. Währenddessen verteilt Brugger Schoggi an die Sänger und startet mit einigen Teilnehmern einen seltsamen Contest im Zungenverdrehen. Sofern dies Trash sein sollte, war es müder Trash und sogar ein wenig zum Fremdschämen. In der Oper wäre so etwas . . . – ach, nicht schon wieder. Immerhin wurde in Basel ja auch gesungen.

Und das mit einigem Anspruch, soweit das instrumentale Playback den Stimmen überhaupt Raum liess, sich zu entfalten. Dem Uneingeweihten mit dem Opernblick fällt allerdings auf: Der Gesang mag Anlass für das ganze Spektakel sein, er spielt hier aber keineswegs immer die Hauptrolle. Nur in den wenigen ruhigeren Beiträgen, etwa der Sängerinnen und Sänger aus Portugal, Slowenien oder den Niederlanden, trägt die gesangliche Darbietung die gesamte Nummer. Nicht zuletzt die Schweizerin Zoë Më, fürs Finale am Samstag bereits gesetzt, zeigt in ihrem Song «Voyage», wie man die furchtbar kurzen drei Minuten, die pro Beitrag maximal erlaubt sind, mit rein musikalischen Mitteln kontrastreich gestalten kann.

Illusion oder Ironie

Der Rest ist Inszenierung und viel Show. Dabei herrschen zwei Strategien vor: Entweder setzen die Teams auf perfekte Choreografien mit Feuer, künstlichem Nebel, Akrobatik und Lichteffekten, wobei sich heutige Opernregisseure etwas von der virtuosen Einbindung der LED-Bildtechnik abschauen könnten. Oder sie durchbrechen gerade diese blitzenden Illusionswelten zwischen Fantasy und Kitsch, indem sie sie ironisieren oder ad absurdum führen – wie die Schweden in ihrem schrägen Sauna-Song, der obendrein den Körperkult vieler Mitbewerber aufs Korn nimmt.

Heutige Opernbesucher kennen beide Strategien längst durch das Regietheater, das den schönen Schein schon seit den 1980er Jahren hinterfragt. Inzwischen gibt es aber eine wachsende Sehnsucht beim Publikum, die Musik in der Oper wieder unmittelbar in ihrer ganzen emotionalen Wucht zu geniessen, unverfälscht durch überambitionierte Verpackungen. Ob das auch beim ESC zu einem Trend werden könnte?

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