Mittwoch, Oktober 9

Ob der Weltranglistenerste tatsächlich gedopt hat, bleibt ungewiss. Sinner ist jedenfalls der Leidtragende eines Anti-Doping-Kampfes, der im Tennis zu lange nur halbherzig geführt worden ist.

Wenige Tage vor dem Beginn des US Open erschüttert ein seltsamer Dopingfall das Männer-Tennis. Der Weltranglistenerste Jannik Sinner ist im Frühjahr zweimal positiv auf das Steroid Clostebol getestet worden. Den ersten Test gab der 23-jährige Italiener während des Turniers in Indian Wells ab, den zweiten rund zehn Tage später im Training.

Die International Tennis Integrity Agency (ITIA), die entsprechende Fälle untersucht, sperrte Sinner daraufhin vorsorglich. Doch ein unabhängiges Gericht hob die Sperre wieder auf und sprach ihn nun frei. Dem Italiener sei weder ein Verschulden noch Fahrlässigkeit vorzuwerfen.

Der positive Test ist unbestritten. Doch in der Medienmitteilung, die Sinners Management am Dienstag nach dem Freispruch verschickte, steht, dem Spieler seien nur Spurenelemente der verbotenen Substanz nachgewiesen worden, die im Bereich von «einem Billionstel eines Gramms» gelegen hätten.

Gemäss der internationalen Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) gilt im Sport die sogenannte Nulltoleranz. Ein Athlet ist entweder gedopt oder nicht. Doch offensichtlich folgte das Gericht der Argumentation von Sinners Anwälten, die schreiben, die verbotene Substanz sei durch die Hände eines Physiotherapeuten in Sinners Körper gelangt. Der Therapeut habe das in Italien frei erhältliche Präparat zur Behandlung einer eigenen Hauterkrankung eingesetzt.

Sinner will die Angelegenheit hinter sich lassen

Jannik Sinner wird in der entsprechenden Medienmitteilung zitiert, er anerkenne die Bedeutung und die Wichtigkeit des Kampfs gegen das Doping, um den Sport zu schützen. «Ich will diese herausfordernde und ausgesprochen unglückliche Periode hinter mir lassen und alles tun, um mit dem Antidoping-Programm der ITIA zu kooperieren.»

Die ATP reagierte auf den Fall, indem sie Sinner das Preisgeld und die 400 Weltranglistenpunkte strich, die der Italiener für seine Finalqualifikation in Indian Wells errungen hatte. Er verlor dort gegen den Spanier Carlos Alcaraz. Es war im 17. Spiel der Saison und nach den Titeln am Australian Open in Melbourne und am Turnier in Rotterdam die erste Niederlage für den italienischen Shootingstar. Danach geriet sein Lauf ein wenig ins Stocken.

Doch am vergangenen Wochenende kehrte Jannik Sinner in Cincinnati zum Siegen zurück. Der Turniererfolg war bereits sein fünfter Titel in der laufenden Saison. Die Weltrangliste führt er weiterhin an. Deshalb gehört er am US Open in New York zusammen mit dem Spanier Carlos Alcaraz zum engsten Favoritenkreis.

Sinners Start in New York wird nun allerdings unter einem besonderen Stern stehen. Bereits haben namhafte Spezialisten erste Fragen zur Plausibilität seiner Begründung aufgeworfen. Auch potenzielle Konkurrenten verfolgen den Freispruch skeptisch. Der Australier Nick Kyrgios, der mittlerweile seit eineinhalb Jahren verletzt ist, schrieb auf X, die ganze Angelegenheit sei lächerlich. Ob Sinner nun versehentlich kontaminiert worden sei oder geplant gedopt habe, sei letztlich egal: «Er wurde zweimal auf eine verbotene Substanz getestet und sollte für zwei Jahre gesperrt werden.»

Die ATP schrieb in einem Statement, dass keine Fehler oder Nachlässigkeiten vonseiten Sinners gefunden worden seien, ermutige sie. Gleichzeitig anerkenne die Organisation die «Unabhängigkeit», mit der die Untersuchung geführt worden sei. Dank dieser war es Sinner auch möglich, weiterhin an der Tennistour teilzunehmen.

Im Statement der ATP klingt mehr Sorge um negative Schlagzeilen als um die Gesundheit der Spieler an. Die Nummer eins und den Star der ersten Monate des Jahres durch einen positiven Dopingtest für zwei Jahre zu verlieren, wäre eine Art Super-GAU für den Tenniszirkus gewesen.

Das Männertennis ist gerade dabei, sich nach der Zeit der langjährigen Dominatoren Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic neu zu definieren. Der Serbe ist zwar noch da und hat mit seinem Olympiasieg vor rund zwei Wochen gezeigt, dass er immer noch konkurrenzfähig ist. Alcaraz und Sinner aber sind jene zwei Spieler, die das Milliardengeschäft in die Zukunft führen sollen.

Das Geschäft steht in dieser Sportart über allem anderen. Im Tennis sind immer wieder Zweifel darüber aufgekommen, wie ernsthaft Dopingsünder verfolgt und ihre Vergehen geahndet werden. Legendär ist die Episode am Swiss Open in Gstaad, als den Dopingkontrolleuren von Antidoping Schweiz (heute Swiss Sport Integrity) der Zugang zum Turniergelände verwehrt wurde. Wenn nicht getestet wird, kann auch nichts geahndet werden.

Selbst ehemalige Topstars wie Murray und Becker zweifeln

Es gibt keinen Grund, weshalb Doping ausgerechnet in der physisch anspruchsvollen Sportart, in der die Saison mittlerweile fast zwölf Monate dauert, nicht vorkommen soll. Ähnlich wie im Fussball argumentierten Experten lange Zeit, Doping störe die Koordination und schade deshalb mehr, als dass es helfe. Das waren hilflose Versuche, die Sportart prophylaktisch reinzuwaschen. Der britische Topspieler Andy Murray hatte bereits 2016 gesagt: «Es wäre naiv, anzunehmen, unser Sport sei sauber.» Er forderte mehr Tests. Boris Becker ergänzte im Eurosport-Podcast «Das Gelbe vom Ball»: «Ich glaube, dass es deutlich mehr schwarze Schafe gibt, als wir alle wissen.»

Beckers Aussage bezog sich damals auf einen der bis heute prominentesten Dopingfälle in der Geschichte des Tennis. Jenen der ehemaligen rumänischen Weltranglistenersten Simona Halep, die am 7. Oktober 2022 gesperrt worden war, weil sie zwei Monate zuvor am US Open positiv auf den Wirkstoff Roxadustat getestet worden war.

Haleps Sperre wurde später vom Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne von vier Jahren auf neun Monate reduziert, weil der Spielerin kein willentlicher Betrug nachgewiesen werden konnte. Andere prominente Spielerinnen wie Maria Scharapowa oder Martina Hingis waren ebenfalls des Dopings überführt und danach gesperrt worden. Hingis, die Kokain konsumiert haben soll, beteuert bis heute ihre Unschuld.

Und nun also der Fall Sinner. Ob dieser nach dem Freispruch wirklich erledigt ist oder zum Menetekel wird, das seine Karriere künftig überschattet, wird sich zeigen.

Clostebol ist ein androgenes Steroid, das ähnlich wie Testosteron den Muskelaufbau beschleunigt und unter anderem in der Viehzucht eingesetzt wird. Medizinische Anwendung findet es unter anderem in der Dermatologie. In Italien ist es rezeptfrei und in jeder Apotheke erhältlich. Die Wada nahm die Substanz 2020 basierend auf einer italienischen Studie in den Katalog der verbotenen Substanzen auf.

Ist Sinner also ein Dopingsünder, der von der Milde des Systems profitiert, oder tatsächlich das Opfer eines unvorsichtigen Therapeuten? Niemand kann das im Moment mit abschliessender Sicherheit sagen. Deshalb gilt wie immer in der Rechtsprechung: Im Zweifel für den Angeklagten. Doch klar ist schon jetzt: Der italienische Weltranglistenerste ist das Opfer eines Anti-Doping-Kampfes, der im Tennis viel zu lange nur halbherzig geführt worden ist und deshalb nun unter latentem Verdacht steht.

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