Der ungarische Ministerpräsident geriert sich als Friedenstaube, verfolgt aber tatsächlich bloss nationale und persönliche Interessen. Auf die Lage in der Ukraine hat er keinen Einfluss.
Wer wünscht sich das nicht: Frieden in der Ukraine. Das Verstummen der Artilleriegeschütze an der Front. Hunderttausende Soldaten, welche die feuchten Schützengräben im Osten verlassen und zu ihren Familien heimkehren. Kinder, die in ukrainischen Städten wieder jeden Morgen zur Schule gehen können, ohne dem Risiko ausgesetzt zu sein, durch eine einschlagende Rakete oder eine Drohne zerfetzt zu werden.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban reiste die letzten Tage nach Kiew, Moskau und Peking, angeblich mit dem Ziel, Frieden in der Ukraine zu fördern. Was man von diesen Reisen halten muss, hat Moskau am Montag auf seine Art und Weise demonstriert: Russland sandte einen Marschflugkörper auf ein Kinderspital in Kiew. Insgesamt wurden ein halbes Dutzend Städte angegriffen und über vierzig Personen getötet. Die Herrscher im Kreml könnten diese völkerrechtswidrigen Angriffe jederzeit einstellen, wenn es ihnen um Frieden und Menschlichkeit ginge. Doch darum geht es eben nicht.
Heuchlerischer Friedenswille
Orban hat seine Reise mit niemandem in der EU abgestimmt, obschon sein Land seit Anfang Juli den Vorsitz der EU innehat. Er tut so, als müsse er sich auf Friedensmission begeben, weil der Rest Europas deren Dringlichkeit nicht begriffen habe. Doch Orbans Friedenswille ist nicht glaubwürdig, solange er sich mit keinem Wort gegen den Aggressor in diesem Krieg stellt. Der Angreifer heisst Moskau, doch aus Moskau kommen auch das günstige Erdgas für die ungarischen Haushalte und Unternehmen und die Technologie für ein neues Atomkraftwerk. Dafür drängt Orban Kiew zur Kapitulation, was genau den Kriegszielen Putins entspricht. Er geriert sich als Putins Lakai, der dafür reichlich belohnt wird.
Ähnlich war es am Montag in Peking. Auch hier spannten beim Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi zwei angebliche Friedenstauben zusammen, die in Tat und Wahrheit bloss ihre eigenen Interessen vertreten. Orban liefert rhetorische Schützenhilfe für Moskau und verzögert europäische Hilfeleistungen an die Ukraine, soweit er kann. Xi liefert massenweise kriegswichtiges Material, Technologie und Geld im Austausch gegen russische Rohstoffe. So wird sich Putins Krieg noch lange fortsetzen lassen. Das Wort Frieden hat mit Orbans Reise in Wirklichkeit nichts zu tun.
Erfolgreiches Doppelspiel
Orban spielt ein Doppelspiel zwischen Ost und West. Durch die Anbindung an EU und Nato hat er Zugang zum Binnenmarkt, zu westlichen Investitionen, Technologie und Transferzahlungen sowie eine Freiheitsgarantie für die eigene Bevölkerung. Von Russland und China fliessen ebenfalls Investitionen, Geld und Technologie ins Land im Austausch dafür, dass Ungarn den Stachel im Fleisch der EU spielt.
Bisher ist Orbans Spiel aufgegangen. Das Land profitiert materiell davon, ganz besonders der engste Machtzirkel um den Ministerpräsidenten selbst. Die Bürger wählen Orban immer wieder dafür, dass er ihnen bescheidenen Wohlstand und den Nationalstolz darauf schenkt, dass das kleine Land die grosse EU und den Westen zu reizen vermag. Ungarn erscheint dadurch grösser und einflussreicher, als es mit seinen 10 Millionen Einwohnern und einer Volkswirtschaft etwa von der Summe der Kantone Zürich und Aargau ist.
Besonders für Orban persönlich zahlt sich die Strategie bis jetzt aus. Sie sichert ihm und seinen Gefolgsleuten Macht und Wohlstand im Land. Im Europaparlament ist es ihm soeben gelungen, eine gewichtige Fraktion nationalkonservativer Parteien zu formen, zu der am Montag auch das Rassemblement national von Marine Le Pen gestossen ist. Zudem hat er sich auf der Weltbühne als Marke und Vorbild zahlloser rechtsnationaler Politiker etabliert; sein autokratisches Erfolgsrezept wird von der Slowakei über Serbien bis nach Lateinamerika und ins Maga-Lager Donald Trumps aufmerksam studiert und kopiert. Das ist ein beachtlicher Erfolg.
Für ein kleines Land wie Ungarn mag so ein Doppelspiel eine Zeitlang durchgehen, weil es eben ein kleines Land ist und wenig Einfluss auf das Weltgeschehen hat. Doch Orban geht das zunehmende Risiko ein, den Bogen zu überspannen. Dass er seine «Friedensreise» just zum Start der ungarischen EU-Rats-Präsidentschaft antrat, ist gewiss kein Zufall. In Brüssel und verschiedenen europäischen Hauptstädten wurde seine mit niemandem abgestimmte Show mit Unglauben und Kritik verfolgt.
Doch die EU tut gut daran, auch diese Provokation kühl und rational zu beantworten. Ein wütender Aufschrei aus Brüssel verschafft Orban bloss noch mehr Prestige unter den illiberalen Kräften und Putin-Freunden in Politik und Medien. Stattdessen hat die EU durchaus Instrumente, um Orbans Sondertouren ins Leere laufen zu lassen.
Diese setzt sie zunehmend routiniert ein. Auf ihre Ukraine-Politik hat Orban bis jetzt kaum spürbaren Einfluss. Rund 22 Milliarden Euro an Transferzahlungen wurden wegen rechtsstaatlicher Bedenken eingefroren. Die EU muss diesen Weg weitergehen und sich so weit wie möglich Orbans Doppelspiel entziehen.

