Die EU hat ein Orban-Problem. Doch es reicht weiter als nur bis Budapest.
Ein High Noon war in Brüssel angekündigt. Doch es war noch nicht Mittag, da war Orbans Bluff schon aufgedeckt. Er gab den Widerstand auf, jetzt ist der Weg endlich frei: Die Ukraine erhält in den nächsten vier Jahren 50 Milliarden Euro, die das finanzielle Überleben des Staates sicherstellen sollen.
Der ungarische Regierungschef hatte gefordert – wie üblich im Alleingang –, dass jede der vier Tranchen jährlich neu genehmigt werden müsse. Das hätte ihm viermal die Möglichkeit gegeben, seinen 26 Amtskollegen mit Vetodrohungen Konzessionen abzupressen.
Doch Orban überzog sein Spiel. Die Front der Mitgliedstaaten blieb lückenlos, die Bereitschaft, ihm erneut entgegenzukommen, war vollständig aufgebraucht. Und Orban, der auch Realist ist, warf die Karten hin.
Orban sabotiert die Russlandpolitik der EU
Doch die Frage bleibt: Wie soll die Europäische Union, wie sollen die 26 Mitgliedstaaten mit dem ungarischen Ministerpräsidenten umgehen? Orban sabotiert systematisch das mit Abstand wichtigste sicherheitspolitische Ziel der EU (und der Nato): die Verhinderung eines russischen Sieges über die Ukraine, deren Abwehrkampf ins dritte Jahr geht.
- Er verzögert die Militärhilfe via EU-Spezialfonds und hat nach monatelangem Hinhalten erst jetzt der Finanzhilfe an Kiew zugestimmt.
- Er verwässert und hintertreibt die Sanktionen gegen Moskau, unterhält weiterhin enge Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und lässt sich von ihm seine Kernkrafttechnologie modernisieren.
- Er verweigert bis heute die Zustimmung zu Schwedens Nato-Beitritt, scheut sich aber nicht, gleichzeitig Putin zu treffen und mit Handschlag Ungarns Wunsch nach guten Beziehung zu bezeugen.
Das sind keine Mätzchen eines auf nationale Souveränität pochenden Politikers. Dass er mit seinen Vetodrohungen blockierte Gelder von der EU auslösen will, spielt in dem Zusammenhang keine Rolle, denn Orban setzt sich bewusst und provokativ in Gegensatz zu den strategischen Zielen der übrigen Unionsmitglieder. Innenpolitisch profitiert er davon, indem er ein «David gegen Goliath»-Narrativ verbreitet: Der besorgte und traditionsbewusste Landesvater steht auf gegen das woke und kriegslüsterne Brüssel.
Sein Kurs zielt allerdings über den Machterhalt hinaus. Orban ist auch ein Visionär. Er hofft – vielleicht zu Recht – dass in einer Reihe von EU-Ländern ein Rechtsrutsch bevorsteht. Rechnet man einen nationalkonservativen Vormarsch bei den EU-Wahlen hinzu, und im November den möglichen Wahlsieg Trumps, wäre Ungarn kein Aussenseiter mehr.
Will die EU Orbans Geopolitik konterkarieren, sollte sie es mit Bedacht tun. Die Forderung nach einem Rausschmiss aus der Union oder nach dem Entzug des Stimmrechts sind unrealistisch, diese Massnahmen würden ohnehin viele Jahre dauern. Auch der altbekannte Vorschlag, in aussenpolitischen Fragen das Konsensprinzip abzuschaffen, hilft nicht weiter. Viele der kleineren Mitgliedstaaten sind nicht bereit, dieses Instrument aus den Händen zu geben. Die EU ist nun einmal kein Bundesstaat – und auch nicht auf dem Weg dahin.
Deutschland, Frankreich und Polen sind gefordert
Dennoch muss die Union handlungsfähiger werden. Weder der heutige noch ein künftiger «Orban» (der nicht ein Ungar sein muss!) sollen ihre wichtigsten strategischen Ziele in der Aussenpolitik dauerhaft blockieren können. Das wird nur gehen, wenn die grossen Länder in sicherheitspolitischen Fragen vermehrt die Führung übernehmen und Koalitionen mit andern Mitgliedstaaten bilden.
Der Blick geht da natürlich nach Deutschland, nach Frankreich und nach Polen. Das «Weimarer Dreieck», das man 2004 folgenlos zu aktivieren versuchte, sollte wiederbelebt werden. Angesichts der innenpolitischen Verstrickungen von Scholz, Macron und Tusk klingt das wie ein frommer Wunsch. Aber gibt es dazu eine Alternative?