Samstag, September 28

In Kreisen, die sich als divers verstehen, ist Michel Foucault ein Star. In der Philosophie hat sein Ansatz an Bedeutung verloren. Das postum erschienene Buch «Der Diskurs der Philosophie» wird daran nichts ändern.

Die Veröffentlichung seines Buchs «Les mots et les choses» («Die Ordnung der Dinge») machte Michel Foucault 1966 international bekannt. Im Echoraum der Philosophie wurde eine Stimme hörbar, die nicht nur anders klang, sondern auch anderes zur Sprache brachte: Die Humanwissenschaften analysierte der damals vierzigjährige Shootingstar als eine Denkbewegung, die sich innerhalb bestimmter Systeme und Gesetze formiert und entfaltet.

Foucault beschreibt die von diskursiven, aber auch von aussersprachlichen Bedingungen abhängigen Regeln und Regelmässigkeiten als eine Art Archäologe, die die Denkspuren in der abendländischen Geschichte zutage fördert. In der «Ordnung der Dinge» entwirft er ein ausgeklügeltes Diskurssystem, das das Geistesleben seit 300 Jahren, zumindest seit Descartes kanalisiert und in bestimmte Bahnen gelenkt hat.

Vierzig Jahre nach Foucaults Tod erscheint nun das im Sommer 1966 verfasste Manuskript «Le discours philosophique» auf Deutsch. Mit derselben Methodik und Systematik wie sein Hauptwerk untersucht «Der Diskurs der Philosophie», wie die Denkformen, deren sich die Philosophen bedienen, historisch entstanden sind und wie sie sich von verwandten Wissensgebieten unterscheiden. Foucault teilt das klassische Denkregime in vier Bereiche ein: den philosophischen, den wissenschaftlichen, den literarischen und den religiösen Diskurs.

Philosophie im Hier und Jetzt

Philosophisches Denken zeichnet sich in seinen Augen durch die Triade «Ich-Hier-Jetzt» aus: Das sprechende Subjekt äussert sich zu einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort. Für die anderen Gebiete ist die eine oder andere dieser drei Säulen nicht konstitutiv: für die Wissenschaft etwa das Ich, für die Literatur das Jetzt. Philosophie hingegen muss das Jetzt, aus dem sie spricht, interpretieren. Und hebt sich so auch vom Alltagsdiskurs ab, dem dieses Jetzt stumm zugrunde liegt.

Je länger man in dem Buch liest, desto mehr wachsen die Zweifel an der Systematik und Stimmigkeit der enzyklopädisch gelehrten, in vielerlei Hinsicht spekulativen Analyse. Michel Foucault grenzt die geisteswissenschaftlichen Diskurse und Disziplinen fein säuberlich voneinander ab, ordnet ihnen spezifische Funktionen zu und schubladisiert sie fast zwanghaft in Register – obwohl er selbst von der «stillen Komplizenschaft von Texten» spricht. Seine messerscharfe Einteilung in ein Labyrinth von Diskursen und Unterdiskursen ist so rigide, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, die Ratio habe nur gewaltsam eine solch penible Ordnung erschaffen können.

Die Ankündigung des Verlags, der von einer «kleinen Sensation» spricht, ist übertrieben. Trotzdem gibt es einen Grund, das Buch zu lesen. Foucault hebt nämlich die Rolle und Bedeutung Friedrich Nietzsches für die moderne Philosophie auf eindrückliche Weise hervor. «Nietzsche steht für eine Zäsur in der Geschichte des abendländischen Denkens.» Er, der sich selbst als Dynamit bezeichnete, habe das Korsett zertrümmert, in dem die Philosophie gefangen war.

Neubeginn des Nachdenkens

Nietzsche reisse, so Foucault, die Grenzen zwischen den Disziplinen ein und führe den «grossen Pluralismus» gegen die gesamte Philosophie seit Descartes ins Feld: die Vielheit von Subjekten, die Rückkehr unzähliger Götter und die polytheistische Form der Erfahrung.

Bezeichnend für Nietzsches umwertendes Denken sei der Aphorismus, der die ununterbrochene Linie des herkömmlichen philosophischen Diskurses zerschneide. Zur Philosophie gehörten beim Schöpfer des «Zarathustra» auch die Wissenschaft, die Literatur und der Glaube, ja selbst der Wahnsinn, den Foucault – ähnlich wie Gilles Deleuze – überhöhte, als er ihn im Buch «Wahnsinn und Gesellschaft» als von der Vernunft untrennbar beschrieb.

Wenn Friedrich Nietzsche über Geschichte, Philologie oder griechisches Theater schreibe, also im «Element der Nicht-Philosophie» spreche, sei auch das: philosophieren. Nietzsche löst laut Foucault das Jetzt des philosophischen Diskurses in der Wiederkehr des ewig Gleichen auf und lässt das Subjekt im Funkeln der Sprache verschwinden. Mit dem Auftritt von «Kaiser Nietzsche» ende eine bestimmte Form von Philosophie, und eine neue beginne.

Nachlassende Bedeutung

Heute müsse der Philosoph, so Foucault, die Gegenwart im Sinne Nietzsches diagnostizieren. Er muss quasi ein Arzt der Kultur sein, allerdings befreit von der Pflicht, sie heilen zu müssen. «Er ist ein Vorübergehender, der dem Vorübergehen näher ist als jeder andere.» Der Philosoph sage, was ist und geschieht. Er mache sichtbar, was eigentlich wahrnehmbar sein müsste, aber so eng mit uns verbunden sei, dass wir es übersähen. Philosophie holt laut Foucault das Ungesagte in die Sprache und richtet ihr Augenmerk auf das Ereignis, nicht das Ewige.

Mit seiner Kritik an der normierenden Kraft der herrschenden Machtdiskurse, etwa in «Überwachen und Strafen», und seiner Neugier an dem, was an den Rändern der etablierten Disziplinen geschieht, findet Michel Foucault heute wieder Gehör. Vor allem in Kreisen, die sich als divers verstehen und Zuschreibungen von eindeutigen Identitäten ablehnen.

Davon abgesehen muss man allerdings feststellen, dass seine Diskursphilosophie an Bedeutung und Einfluss verloren hat. Auch an den Akademien ist es ruhig geworden um sie: In den Sozial- und Geisteswissenschaften, zumindest hierzulande, wird sein Werk weniger rezipiert und diskutiert als etwa jenes von Niklas Luhmann oder Jürgen Habermas, aber auch als jenes von Pierre Bourdieu, der Foucaults Auffassung von Geschichte und Kultur einmal als «abstrakt und idealistisch» kritisierte. Daran wird auch «Der Diskurs der Philosophie» nichts ändern.

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie. Herausgegeben von Orazio Irrera und Daniele Lorenzini unter der Leitung von François Ewald. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 352 S., Fr. 48.90.

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