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Bis vor kurzem wurde die norditalienische Hafenstadt Genua als Modell für Italien gefeiert, dann legte sich ein Korruptionsfall über die Stadt und die Region. Jetzt steht eine Regionalwahl an, die von der Regierung in Rom als wichtiger Test angesehen wird.
Diese Stadt macht es einem nicht leicht. Vom Meer, an dem sie liegt, ist im Häusergewirr erst einmal nichts zu sehen. Und selbst vom Himmel erkennt man nur einen winzigen Ausschnitt. Die Häuser der Altstadt stehen dicht gedrängt, die Gassen sind manchmal so schmal, dass Passanten kaum aneinander vorbeikommen. Es ist ziemlich dunkel, obwohl die Sonne durch die Wolken drückt.
Die meisten Leute kennen von Genua nur den Hafen. Wenn sie sich hier einschiffen nach Olbia, Palermo oder Bastia, haben sie anderes im Kopf: lange Ferien, Strände, Licht, Ruhe. Genua ist für sie die Ablegestelle, der Ort, «den es braucht, damit er verlassen werden kann», wie der Dichter Cesare Pavese schrieb.
Sie machen einen Fehler. Denn Genua, «la Superba», die Stolze, wie die frühere Seemacht seit dem Mittelalter genannt wird, ist eine Schönheit. Eine, die sich erst auf den zweiten Blick erschliesst. Nicht wenige, unter ihnen einige Schweizer, sind hier hängengeblieben, nachdem sie sich einmal auf die Stadt an der ligurischen Küste eingelassen haben. «Folgorati», vom Blitz getroffen, seien seine Gäste mitunter, wenn sie, manchmal eher zufällig, auf der Durchreise in seinem Hotel übernachteten und einen Spaziergang durch die Stadt machten, sagt Giovanni Ferrando, Direktor des «Bristol Palace», eines historischen Hotels im Geschäftszentrum.
Ferrando ist seit mehr als dreissig Jahren im Fünfsternehaus tätig, er hat das Auf und Ab des Tourismus hier aus nächster Nähe verfolgt. Früher sei Genua die «Stadt bei Portofino» gewesen, mittlerweile habe sie den Status eines Reiseziels, das es zu entdecken gelte. Die Aufwertung des Zentrums habe sich positiv ausgewirkt. Das Kolumbus-Jubiläum von 1992, der denkwürdige G-8-Gipfel von 2001 und die Wahl zur europäischen Kulturhauptstadt 2004 haben Geld in die Stadt gespült. Monumente wurden restauriert, die Infrastruktur verbessert, Teile der Altstadt wurden autofrei gemacht, der alte Hafen wurde vom Genueser Architekten Renzo Piano umgestaltet.
Aus der Zeit gefallen
So richtig poliert wirkt die Stadt trotzdem nicht, sie hat vielmehr ihren etwas verblichenen Charme bewahrt. Wer durch die riesige Altstadt schlendert, bemerkt zahlreiche Geschäfte und Werkstätten mit Firmenschildern, die komplett aus der Zeit gefallen scheinen.
«Viva la Resistenza» heisst es etwas unvermittelt an der Türe der Trattoria «Il Mangiabuono», darunter das Menu mit Gerichten der typischen Genueser Küche: Meeresfrüchte, Pasta al pesto, Gemüsesuppe. Die Küche hält, was der Name des Lokals verspricht: Man isst gut hier. Kleine Tische, blau-weiss karierte Tischdecken, solide weisse Teller, Brotkorb, Weinglas, Wasserflasche. Kein Chichi. Den Aufruf zum Widerstand liest man nach dem Essen unweigerlich als Appell gegen modische Kulinarik-Trends. Ob er auch so gemeint ist? Sei’s drum: Lokale wie das «Mangiabuono» stemmen sich gegen den Zeitgeist – und finden damit Zuspruch bei Reisenden, vor allem jenen aus dem Norden.
Das Geschäft mit dem Tourismus habe den Niedergang der alten Industrien teilweise kompensiert, bestätigt Andrea Costantini, Vizedirektor der wichtigsten Zeitung der Stadt, des «Secolo XIX». Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre befanden sich die Stahl- und die Schiffindustrie, die Genua nach dem Krieg einen ungeahnten Boom beschert hatten, in einer tiefen Krise. Streiks und Arbeitskonflikte waren an der Tagesordnung. «Es lief nicht gut, damals», sagt Costantini, der die Entwicklung der Stadt seit Jahrzehnten verfolgt. Viele der grossen Staatsbetriebe wurden aufgelöst oder in Einzelteile zerlegt.
Neben dem Rüstungskonzern Leonardo betreibt immerhin die mehrheitlich dem Staat gehörende Fincantieri, Europas grösste Schiffbaufirma, wichtige Werke in der Stadt und der Region und hegt grosse Ausbaupläne. Über die Zeit gerettet haben sich auch kleine Zulieferbetriebe, die früher am Tropf der staatlichen Kolosse hingen. Einige haben sich mittlerweile zu spezialisierten Klein- und Mittelunternehmen weiterentwickelt, die Bestandteile für die Industrie produzieren.
«Die Region hier verfügt über eine ansehnliche Zahl von hoch kompetenten Firmen», sagt René Rais, der selbst ein solches Unternehmen führt und im Nebenamt als Schweizer Honorarkonsul tätig ist. Gemessen an der früheren Situation Genuas beurteile er die Situation der Stadt und der Region heute als positiv, sagt er. Das stimme ihn zuversichtlich für die Zukunft.
Riesige Infrastrukturprojekte
Tatsächlich befinden sich grosse Pläne in der Pipeline. 2026 soll – wenn alles gutgeht – endlich der sogenannte Terzo Valico eröffnet werden, die Bahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke, die Genua mit der norditalienischen Ebene und dem Rhein-Alpen-Korridor verbinden wird. Die Transport- und Reisezeiten zwischen Genua und Mailand werden sich damit stark verkürzen.
«Für uns wird das ein sehr wichtiger Schritt», sagt Alberto Pozzobon, Marketing-Manager in der Hafenbehörde von Genua. Dank der verbesserten Bahnanbindung kann der Anteil der vom Hafen auf den Schienenverkehr verladenen Güter von heute 16 auf 30 Prozent erhöht werden. Die Märkte nördlich der Alpen können künftig effizienter bedient werden. Heute sind laut Pozzobon 95 Prozent der Güter aus Genua für Norditalien bestimmt. Mit dem Terzo Valico tun sich neue Möglichkeiten auf.
Dazu kommt der neue Damm im Hafen, der derzeit gebaut wird. Es handelt sich um ein 1,3 Milliarden Euro teures Projekt, mit dem nach 2026 auch die neuste Generation von Container- und Kreuzfahrtschiffen bequem in Genua anlegen kann. In bis zu fünfzig Metern Tiefe wird dabei draussen im Meer eine Mauer aufgeschüttet – «eine technisch sehr anspruchsvolle Sache», sagt Pozzobon. Ist das Werk einmal erstellt, erhält der Hafen ein wesentlich breiteres Wendebecken. Ausserdem kann der Schiffsverkehr vollständig entflochten werden: Terminals, Werften und Jachthäfen werden fortan getrennt angefahren.
Die grossen Pläne finden die Aufmerksamkeit von Investoren. Einer von ihnen heisst Gianluigi Aponte. Der 84-jährige italienische Unternehmer, der seit Jahrzehnten in Genf lebt und in der Schweiz als einer der reichsten Männer gilt, ist Herr über die MSC, die Mediterranean Shipping Company. Sie ist gemessen an den Transportkapazitäten die grösste Container-Reederei der Welt und verfügt über beträchtliche finanzielle Mittel, die sie zu investieren sucht. Vor wenigen Monaten hat MSC 50 Prozent der privaten italienischen Eisenbahngesellschaft Italo erworben.
Auch in Genua ist MSC stark vertreten. Die Stadt ist die Heimbasis der Flotte der MSC-Kreuzfahrtschiffe, ausserdem dient eines der hiesigen Terminals als Tor des Unternehmens zum Containerverkehr im Mittelmeer. Als Aponte kürzlich auch noch beim Genueser Flughafen einsteigen wollte, legte sich die örtliche Handelskammer als Grossaktionärin quer. Der Flughafen soll vorerst in öffentlicher Hand bleiben.
Hingegen liess es sich der diskrete Unternehmer aus Genf nicht nehmen, dem Turiner Fiat-Erben Elkann das «Secolo XIX» abzukaufen, die publizistische Stimme Genuas und ganz Liguriens. In der Genueser Wertschöpfungskette der Aponte gibt es nun (fast) keine Lücke mehr.
Von alldem hört und weiss man in Rom wenig. Genua ist weit weg, Ligurien ist flächenmässig eine der kleinsten Regionen des Landes, und auch die beiden Genueser Fussballmannschaften sorgen zum Leidwesen der Einheimischen selten für Furore.
Vom Brückentrauma zum «Modello Genova»
Als am späten Vormittag des 14. August 2018 der Ponte Morandi, die grosse vierspurige Autobahnbrücke in Genua, einstürzte und dabei 43 Menschen ihr Leben verloren, änderte sich dies auf einen Schlag. Nun war die Stadt in aller Munde. Die Trümmer wurden zum Inbegriff für die Schludrigkeit des Landes, der Einsturz hatte eine Wunde ins kollektive Selbstverständnis der Italiener geschlagen.
Doch dann geschah das «Wunder». Binnen zwei Jahren raffte sich Genua auf. Der derzeit berühmteste Sohn der Stadt, der Architekt Renzo Piano, war einmal mehr zur Stelle und stellte sich als Erbauer einer neuen Brücke zur Verfügung – gratis. Der Bürgermeister Marco Bucci wurde zum Sonderkommissar ernannt, bürokratische Hindernisse wurden aus dem Weg geräumt, Gelder gesprochen. Bereits am 3. August 2020 wurde die neue Brücke eingeweiht. Italien rieb sich die Augen, das «Modello Genova» war geboren – das, was das leidenschaftlich streitende Land so schmerzlich vermisst: die Fähigkeit, innert kurzer Zeit ein Projekt erfolgreich ins Ziel zu führen. Buccis Popularität erreichte Höchstwerte, der Sindaco war der Star der Stunde.
An ihn und das «Modello» erinnerte sich Italiens Rechte vor einigen Monaten, als es darum ging, einen Kandidaten für die Regionalwahl aufzustellen. Diese wurde nötig, nachdem ein Korruptionsfall Ligurien aufgeschreckt hatte. Es ging um Geschenke, Einladungen, Parteispenden – und um einige Gegenleistungen, die die Politik dafür zu erbringen hatte. Alles natürlich im Umfeld des Hafens, wo viel Geld und grosse Wirtschaftsinteressen im Spiel sind. Der bisherige Präsident der Region, Giovanni Toti, Vertreter einer kleinen bürgerlichen Gruppierung, die der Regierung von Giorgia Meloni nahesteht, musste zurücktreten. Er hat inzwischen eine Art Vergleich mit der Justiz abgeschlossen und gerade sein politisches Vermächtnis in Buchform publiziert.
Nun soll es an seiner Stelle der gesundheitlich angeschlagene Bucci noch einmal richten. Die Erinnerung an seinen Einsatz beim Bau der neuen Brücke soll ihn an die Spitze der ligurischen Regionalregierung tragen. Sein Programm: die Verteidigung des «Modello Genova». Ob das ausreichen wird? Sein Gegenspieler ist der frühere sozialdemokratische Justizminister Andrea Orlando, der seinen Wahlkampf ganz auf drängende sozialpolitische Fragen ausgerichtet hat. Die Auguren sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Gewählt wird am kommenden Sonntag und Montag. Sowohl für die Regierung als auch die Opposition in Rom handelt es sich um einen wichtigen politischen Test.
Die Genuesen selbst sehen dem Wahltag ohne allzu grosse Leidenschaft entgegen. Für Giovanni Ferrando, den Direktor des «Bristol Palace», ist es unabhängig vom Ausgang wichtig, dass die grossen Projekte zur weiteren Entwicklung der Stadt und der Region weiterverfolgt werden. Die nationale Aufmerksamkeit nach dem Korruptionsfall behagt ihm eher nicht. «Wir Genuesen», sagt er, «machen am liebsten einfach unsere Arbeit.»
Sein Hotel ist der Inbegriff dieser Haltung – und einer Stadt, die sich kleiner macht, als sie ist, und zu der der historische Zusatz «die Stolze» nicht mehr so richtig passen will. Von der Strasse aus kaum sichtbar, verbirgt sich gleich hinter der Eingangstüre eines der eindrücklichsten Treppenhäuser, die man sich vorstellen kann. Die filigrane Treppe dreht sich in schwindelerregende Höhen und soll Alfred Hitchcock 1958 zu seinem Thriller «Vertigo» inspiriert haben.