Sonntag, November 17

Niemand dokumentiert die Verluste im Ukraine-Krieg so akribisch wie die Militärplattform Oryx. Im Interview erklärt der Betreiber, wie er an die Bilder kommt und warum ihn Russland nicht einschüchtert.

Ein Blick auf die Website Oryx ist wie ein beklemmender Rundgang auf dem Schlachtfeld des Ukraine-Krieges – ausser dass man praktisch nie Soldaten zu Gesicht kriegt. Dafür sieht man umso mehr kaputtes russisches und ukrainisches Kriegsmaterial: Panzer, Kampfjets, Raketenwerfer, Helikopter, Kriegsschiffe, Truppenfahrzeuge, Haubitzen, gar ein U-Boot. Alles ist fein säuberlich nach Art der Ausrüstung, Herkunft, Grad der Zerstörung und oftmals Fundort geordnet.

Ohne Foto- oder Videobeweis gibt es keinen Eintrag auf Oryx, die effektiven Verluste beider Armeen sind also noch höher. Doch auch schon so sind die Zahlen furchterregend: Gegenwärtig sind 26 000 zerstörte Kriegsgüter aufgeführt – rund drei Viertel davon auf russischer Seite. Es ist das umfassendste öffentlich zugängliche Archiv zum Ukraine-Krieg. Jakub Janovsky, der zusammen mit einem kleinen Team die Plattform betreibt, nimmt bei einem Besuch in Brüssel erstmals ausführlich gegenüber einem deutschsprachigen Medium Stellung.

Herr Janovsky, was treibt einen Tschechen an, kaputtes Kriegsmaterial in der Ukraine zu dokumentieren?

Ich habe mich schon immer für Kriegsführung und Waffen interessiert. Mein Engagement für Oryx geht jedoch darüber hinaus: Ich habe den Kalten Krieg nur als Kind miterlebt, aber meine Familie hat unter der sowjetischen Besetzung gelitten. Ich habe ein ganz persönliches Interesse daran, dass Wladimir Putin diesen Krieg nicht gewinnt.

Glauben Sie, dass Ihre Arbeit tatsächlich einen Einfluss aufs Kriegsgeschehen haben kann?

Ich will unsere Rolle nicht überschätzen. Aber der Blog wird in der Ukraine, in Russland und ganz besonders im Westen genau angeschaut. Unzählige Medien, auch die NZZ, zitieren regelmässig aus unseren Daten. Das wiederum beeinflusst die Rüstungsentscheide der Regierungen, welche die Ukraine unterstützen. Wenn für jedermann ersichtlich ist, dass die gelieferten Waffen Wirkung erzielen, ist die Gefahr von «Kriegsmüdigkeit» kleiner.

Würde man sich durch die Bilder von zerstörten Waffen auf Ihrer Plattform klicken, würde es Stunden dauern. Woher haben Sie all die Fotos?

Zu Beginn stammte viel Material aus der Zivilbevölkerung, mittlerweile kommt der grösste Teil direkt von der ukrainischen Armee. Wir haben ein paar gute Kontakte zu Soldaten – oftmals Drohnenpiloten –, die uns direkt beliefern. Die meisten Fotos und Videos sind aber frei verfügbar auf den verschiedensten Kanälen, insbesondere Telegram und X. Die Militärangehörigen haben ein Interesse daran, ihre «Trophäen» öffentlich zu präsentieren. Dies geschieht aus Stolz, aber auch, um die eigene und die westliche Bevölkerung zu beeinflussen.

Gleichzeitig bringen sich die Truppen selbst in Gefahr, wenn sie Informationen veröffentlichen, die Rückschlüsse auf ihre eigenen Stellungen ermöglichen.

Ja, das ist in der Tat ein Problem. Wir veröffentlichen die Dokumente, die uns direkt zugeschickt werden, deshalb oftmals mit einigen Wochen Verzögerung. Ganz selten publizieren wir auch Verluste, von denen wir keinen Bildbeweis haben – allerdings nur dann, wenn wir eine offizielle Bestätigung der Seite haben, die den Schaden erlitten hat.

Haben Sie auch Informanten innerhalb der russischen Reihen?

Nein. Aber deren Soldaten laden oftmals selbst Bildmaterial ins Netz.

Sie deklarieren Ihre Unterstützung für die Ukraine klar. Warum dokumentieren Sie dann auch deren Verluste und nicht nur diejenigen Russlands?

Unsere Glaubwürdigkeit wäre weniger hoch, wenn wir nur die eine Seite analysieren würden. Zudem glaube ich, dass es durchaus einen Wert hat, der internationalen Öffentlichkeit auch die ukrainischen Verluste zu zeigen. So wissen die Partnerstaaten, welche Ausrüstung besser – oder schlechter – funktioniert und was ersetzt werden muss.

Die Wahrheit stirbt im Krieg bekanntlich zuerst. Wie können Sie – gerade mit der rasanten Entwicklung der künstlichen Intelligenz – verhindern, dass Sie Fälschungen auf den Leim gehen?

Wir verifizieren jedes Dokument mittels Open Source Intelligence (Osint). Meist ist dies gar nicht so schwer, weil uns der genaue Standort des Fundes übermittelt wird. Dann können wir die Angaben mit verfügbaren Geolokalisierungsdaten, Satellitenbildern und anderen öffentlichen Daten abgleichen, um die Echtheit zu überprüfen. Häufiger als Fotos kriegen wir ohnehin Videos – in beiden Varianten ist die KI glücklicherweise nicht fähig, qualitativ hochstehende Fälschungen zu produzieren.

Oft wird ein zerstörter Panzer nicht so schnell abtransportiert – gut möglich also, dass ihn andere Soldaten später nochmals fotografieren, vielleicht wurde das Wrack sogar noch mehr zerstört. Wie verhindern Sie Doubletten in Ihrem Kriegsarchiv?

Da hilft uns wiederum die Geolokalisierung am meisten. Zudem sind die Schäden in der Regel «einzigartig». Aber die hundertprozentige Gewissheit gibt es nicht. Im Zweifel verzichten wir auf eine Publikation.

Die Liste der kaputten Kriegsgüter ist beeindruckend. Naturgemäss kann sie nur einen Teil der tatsächlichen Verluste darstellen. Wie hoch schätzen Sie die «Trefferquote» von Oryx ein?

Das kommt ganz auf die Waffengattung und ihre Stationierung an. Im Frontgebiet gehen wir davon aus, dass wir 80 bis 90 Prozent aller Verluste dokumentiert haben. Bei Panzern zum Beispiel nähern sich unsere Zahlen der Realität wohl ziemlich gut an – sie sind oft zuvorderst im Einsatz, und so ein kaputtes Ungeheuer bleibt nicht unbemerkt liegen. Bei anderen Gerätschaften, gerade wenn sie aus der zweiten Reihe operieren, ist der Anteil sicherlich geringer. Kleinere Waffen wie Gewehre oder Drohnen weisen wir gar nicht aus, das wäre schlicht nicht möglich.

Überrascht es Sie manchmal, welches Kriegsgerät eingesetzt wird?

Eine Überraschung ist es nicht, aber unsere Daten zeigen klar auf, wie veraltet die Ausrüstung ist, insbesondere auf russischer Seite. Sie könnte teilweise direkt aus dem Museum stammen. Weit über die Hälfte des Materials, das Russland in der Ukraine verliert, stammt noch aus sowjetischen Zeiten – bis zurück in die vierziger und fünfziger Jahre.

Die Zerstörungen am Kriegsmaterial sind oft massiv. Wie kann man da noch unterscheiden, ob es nun der Haubitzen-Typ X oder Y war?

Bei den Panzern bin ich ziemlich gut, die meisten von ihnen erkenne ich von blossem Auge. Bei anderen Gerätschaften sind Kollegen spezialisierter. Wir sprechen uns meistens ab und holen wenn nötig auch externe Hilfe. Vergessen wir aber nicht: Längst nicht alles russische Material, das wir dokumentieren, ist auch zerstört – was noch brauchbar ist, verwendet nun die ukrainische Armee.

Wie gross ist Ihr Team eigentlich?

Zum harten Kern gehören fünf Personen. Ein knappes Dutzend Leute helfen uns von Zeit zu Zeit. Die meisten meiner Kollegen arbeiten in den USA und in Europa.

Wie finanzieren Sie sich?

Wir arbeiten alle ehrenamtlich, womit wir sehr tiefe Fixkosten haben. Für unsere Unabhängigkeit ist das natürlich ein Vorteil. Das geht aber nur, weil wir auch «normale» Arbeitsplätze haben – ich zum Beispiel in der Telekommunikation. Etwa zwanzig Stunden pro Woche wende ich schon für Oryx auf.

Wie viele Bilder erhält die Plattform wöchentlich?

Im Schnitt sind es um die tausend Bilder pro Woche, die rund 200 Verluste dokumentieren. Wie viele es wirklich sind, hängt aber stark vom Verlauf der Kämpfe ab. Beim recht planlosen Angriff der Russen zu Beginn des Krieges oder bei der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer 2023 waren es deutlich mehr als heute.

Die Verluste sind im Ukraine-Krieg auf beiden Seiten gewaltig: Die Plattform Oryx versucht, diese so lückenlos wie möglich zu dokumentieren.

Was löst es bei einem aus, wenn man stundenlang Tod und Zerstörung anschaut?

Manchmal kriegen wir tatsächlich schreckliche Bilder zu Gesicht. Am schlimmsten sind Aufnahmen von getöteten Zivilisten – wir sehen «glücklicherweise» viel häufiger tote Soldaten. Aber natürlich gibt es angenehmere Aufgaben, als sich solche anzuschauen. Immerhin gibt es Tricks, wie man damit umgehen kann. Videoaufnahmen lasse ich oftmals mit achtfacher Geschwindigkeit laufen und stoppe erst, wenn Gegenstände ersichtlich sind. Und wenn ich schlecht gelaunt bin, schaue ich mir kein Material an. Schlaflose Nächte hatte ich zum Glück noch nie.

Müssen Sie die Bilder oft retuschieren, weil Leichen darauf zu sehen sind?

Wir zeigen grundsätzlich keine Toten. Zumeist waren diese zum Zeitpunkt der Aufnahme ohnehin schon abtransportiert. Nur manchmal machen wir Ausnahmen – etwa wenn ein Panzer ohne Leiche nicht identifizierbar ist. Dann verpixeln wir.

Die russischen Verluste sind viel grösser. Das Putin-Regime hat deshalb wohl wenig Freude an Ihrer Plattform. Dass es vor unzimperlichen Methoden nicht zurückschreckt, ist bekannt. Werden Sie eingeschüchtert?

Nicht wirklich. Prorussische Propagandisten bezichtigen uns manchmal der Fake News, aber damit können wir leben. Dass wir im Nato-Territorium und nicht in der Ukraine oder gar in Russland arbeiten, schützt uns bis zu einem gewissen Grad.

Wird Ihre Website angegriffen?

Bis anhin nicht in grossem Ausmass, wir haben aber auch einige Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Ich denke, dass andere Kriegsbeobachter gefährdeter sind – etwa diejenigen, die russische Stellungen veröffentlichen.

Oryx wurde ursprünglich von zwei Niederländern gegründet und konzentrierte sich zunächst auf den Syrien-Krieg. Was führte zur Trennung?

Da steckt nichts Besonderes dahinter, sie hatten einfach andere berufliche Pläne. Wir führen nur die Ukraine-Liste weiter, Oryx ist mittlerweile weniger breit aufgestellt.

Stehen Sie in Konkurrenz mit anderen Osint-Plattformen wie Bellingcat?

Wir sehen uns als Ergänzung, nicht als Konkurrenz. Bellingcat macht hervorragende Arbeit, hat aber einen anderen Fokus: Sie sind eher auf die Aufklärung von einzelnen Ereignissen spezialisiert als auf eine minuziöse Archivierung.

Bald dauert der flächendeckende Krieg seit tausend Tagen an – und weiterhin ist kein klarer Ausgang ersichtlich. Wie lautet Ihre Prognose?

Wir sehen seit geraumer Zeit, dass keine der beiden Parteien die Ziele erreicht, die sie sich gesetzt haben. Ich gehe davon aus, dass sie 2025 oder spätestens 2026 irgendeine Form von Abkommen schliessen. Meine Vermutung wäre, dass die Ukraine die Krim und einen Teil der besetzten Gebiete im Donbass als russisch anerkennt und im Gegenzug einige Regionen, die nach dem Beginn des Krieges im Jahr 2022 verlorengingen, zurückerhält. Dafür brauchte sie Sicherheitsgarantien der Nato oder der EU. Voraussetzung für dieses Szenario ist aber, dass der Westen die Ukraine weiterhin in grossem Stil unterstützt.

Exit mobile version